09.08.2023 13:11:56
PREISGEKRÖNTE REPORTAGE
Von Andreas Unger
Zur Person: Andreas Unger | |
Andreas Unger, geboren 1977, aufgewachsen in Niederbayern. Zivildienst im Krankentransport und Rettungsdienst, Studium der Diplom-Journalistik an der Ludwig-Maximilians-Universität München und der Internationalen Beziehungen an der Georgetown University in Washington DC. Besuch der Deutschen Journalistenschule. Andreas Unger absolvierte Praktika unter anderem bei Tagesspiegel, Welt, Süddeutsche Zeitung Magazin und Sächsische Zeitung. Seit 2005 schreibt der freie Journalist Reportagen und Portraits unter anderem für chrismon, Tagesspiegel, Die Zeit und brandeins. Daneben arbeitet Unger als TV-Autor für das Bayerische Fernsehen. 2007 erhielt er den Journalisten-Preis des Weißen Rings, 2008 den n-ost-Reportagepreis. |
Preisträger Andreas Unger |
a kommt es wieder, schleppend erst, dann schubweise: der Dachboden, die Soldaten. Die Schlüssel und die Kirche. Der Kurator, das Huhn. Maria Lengyel sinkt zurück, kramt nach den richtigen Worten, Jahren, Namen. Die Stirn unter dem zerschlissenen Kopftuch kräuselt sich, jeder Gesichtsmuskel setzt ein Dutzend Falten in Bewegung, so viele davon haben ihr die 82 Jahre ins Gesicht geschrieben. Ihre Augen schrecken auf, als sie wieder auftaucht aus der Vergangenheit und erzählt, was sie mitgebracht hat.
„Im Vierundvierzigerjahr war’s, da sind unsere Sachsen weg. Haben müssen fliehen, ja, der Krieg! Aber wir Zigeuner sind geblieben. Die Frauen haben sich versteckt im Wald, denn die Soldaten von der Roten Armee haben Frauen gesucht. Ich war auf dem Dachboden, zwei Tage hab ich müssen bleiben ohne Essen und ganz ruhig. Nicht haben sie mich gefunden, keiner hat mich angelangt!“
Über 600 Siebenbürger Sachsen hatten zuvor dem deutschen Militärbefehl gehorcht, ihre Pferde und Ochsen vor die Wagen gespannt und waren aufgebrochen gen Westen, Richtung Niederösterreich. Es sei ja nicht für ewig, so hatten die meisten gehofft und gaben die Schlüssel für Viehstall, Weinkeller und Wohnhaus ihren Zigeunern.
Ihren Zigeunern, denn die hatten sich damals gern auf einem Sachsenhof als Tagelöhner verdingt. Hier galten sie eben nicht, wie weitum, als heimatlos, dubios, rastlos. Sondern als Weilauer. Als brave Zigeuner, wie es hieß.
Heute sind sie es, die Weilau am längsten bewohnen. Und die die deutsche Kultur weitertragen, nachdem sie in den letzten 60 Jahren ein einziges Kommen und Gehen sahen: Nachdem die Sachsen geflohen waren, siedelten Ungarn, dann kamen Rumänen dazu und schließlich wieder einige Sachsen, die es aber nicht mehr lange aushielten in Weilau. Nur die Zigeuner blieben.
Weilau, auf Rumänisch Uila, auf Ungarisch Vajola, gegründet von den Siebenbürger Sachsen, die im zwölften Jahrhundert aus dem Nordwesten des deutschen Sprachraums eingewandert waren. „Sachsen“ heißen sie, weil in alten ungarischen Urkunden von den Deutschen als „saxones“ die Rede ist.
Sie buken Brot und ernteten Obst, sie kelterten Wein, fütterten Vieh und brannten Schnaps zwischen den sanften Hügeln Transsilvaniens, im Norden Siebenbürgens, dem Land hinter den Wäldern. Dort, wo noch heute im Herbst der Hunger die Wölfe aus dem Wald treibt, sodass sie sich schadlos halten an den Schafherden hinterm Dorf. Dort, wo noch heute keine Straße durchführt, bloß eine endet.
Neuerdings kommen öfters Besucher aus der reichen Welt diese Straße entlang. Ihnen trotten Pferdegespanne im Zickzack entgegen auf einem Weg, der an manchen Stellen nur aus den Rändern von Schlaglöchern besteht. Die Besucher sehen verwitterte Schindeln, die sich mit ihrem Gewicht an die alten Dachstühle schmiegen. Sie sehen blinde Fenster, die in ausgebleichten Rahmen stecken, oder eine Kuh, die am Straßenrand gehäutet und ausgenommen wird.
Um Weilaus Mitte, mit dem Kirchturm, der deutschen Schule und dem Gemeindehaus, stehen seit Jahrhunderten stolz die kleinen Sachsenhöfe aus lehmverputztem Fachwerk. Am Dorfrand wohnten die Zigeuner, die sich selbst so und nicht etwa „Roma“ nennen. Um 1800 sind sie wohl dazugestoßen, so genau weiß das niemand mehr.
Auch nicht, wann sie neben ihrer Muttersprache Romanes auch Sächsisch lernten, eine Spielart des Deutschen, die fast schon eine eigene Sprache ist; oder warum sie sich protestantisch taufen ließen nach Art ihrer Sachsen und mit ihnen die Kirche besuchten; oder wann die Männer ihre schwarzen runden Hüte und die Frauen ihre bunten Röcke ablegten und sesshaft wurden.
Wobei „sesshaft“ nicht heißt, dass sie viel zu Hause gewesen wären. Denn die Weilauer Zigeunermänner waren weithin bekannt als die funkelndsten, frohsten, traurigsten, jedenfalls besten Musikanten der Gegend. Bis hinauf zur Bukowina an der ukrainischen Grenze fuhren sie mit Geige, Zambal und Kontrabass,wenn im Nachbarort Botsch ein Anruf oder Telegramm eingegangen war mit der Bitte, man möge einen Weilauer „Taraf“ schicken, also eine Band. Wochenlang waren sie manchmal unterwegs, von einem Fest zum anderen. Noten konnten sie nicht lesen, aber Melodien aus dem Stand nachspielen, das allemal. Die Strauß’schen Dreiviertelschlager standen hoch im Kurs, dazu rumänische Saˆrbaˇ, ungarische Csárdás und, als Zugabe, die alten Zigeunerlieder. Auch für die Weilauer Sachsen spielten sie auf. Tanzen durften dabei nur die Sachsen, so viel Unterschied musste sein.
Von diesem Unterschied weiß die alte Sächsin Susana Iancu zu erzählen. Genauer gesagt: zu schweigen. Sie hat einen Zigeuner geheiratet. Die zierliche, gebrechliche Frau muss den Kopf in den Nacken legen,wenn sie nach vorn schaut, denn ihre monumentale schwarze Brille mit den dicken Gläsern rutscht ihr gerne von der feinen Nase. „Es war keine Schande mit ihm“, stellt sie gleich einmal klar, „er war ein guter Mann.“ Für ihren Zoltan habe es gute Gründe gegeben: „Ich bin nach dem Geld gegangen“, sagt sie, und wer an dieser Stelle auf ein ironisches Lächeln wartet, wird enttäuscht. Nach einer Weile ergänzt sie: „Ein guter Musiker war er auch, und ein scheener Mann!“ Dann schweigt sie.
Und zwar davon, dass ihre Familie sie verstieß, dass sie fortan gemieden wurde unter den Sachsen. Das ergänzt statt ihrer der Historiker Joachim Krauß. Er hat einige Monate in Weilau gelebt und währenddessen die Zigeuner ins Herz geschlossen. Die Hochachtung, mit der die Zigeuner von „ihren“ Sachsen sprechen, sieht er kritisch: „Der Knecht spricht besser über den Herrn als der Herr über den Knecht. Für die meisten Sachsen war das mit den Zigeunern eher ein bisschen peinlich. Es widersprach auch ihrer Idee von der Volkskirche, wonach die Sachsen die einzig vollwertigen Gemeindemitglieder waren.“ Das ist auch der Grund, warum die Zigeuner bis 1989 keine Kirchenbeiträge zahlten, erzählt der ehemalige Weilauer Pfarrer Wolfgang Rehner. „Sonst hätten sie auch den Gemeindekurator und das Presbyterium wählen dürfen. Das wäre den Sachsen zu weit gegangen.“
Doch sie brauchten sich, die Sachsen und die Zigeuner, denn hart war die Arbeit und reichlich. Und sie mochten sich. So stand es um die Sachsen und die Zigeuner, bis der Krieg aus Deutschland über die Wälder kam und die Weilauer Sachsen fand, die den Zigeunern die Schlüssel gaben zu treuen Händen.
Und so molken und fütterten sie die Kühe der Sachsen, erzählt die alte Frau Lengyel. Wieder beginnt das wache Mienenspiel ihres Gesichts, über das manchmal ein junges Strahlen huscht oder eine alte Verstörung, die man erst begreift, wenn sie die Geschichte erzählt von den Russen, dem Gemeindekurator und dem Huhn: Einmal habe sich ein Zigeuner erlaubt, ein Huhn zu schlachten, ein Sachsenhuhn, aber da habe ihn sich der Herr Gemeindekurator zur Brust genommen und recht heftig ausgescholten! „Na, und später sind die Russen gekommen von der Roten Armee“, erzählt Frau Lengyel und legt ihre Hand auf die Wange. „Ojoj! Viel Hunger hatten die und keine Sorge, wem die Hühner gehören!“ Als die Russen weiterzogen, taten die Zigeuner weiter ihre Arbeit. Denn wenn die Sachsen erst wiederkommen würden, sollten sie mal sehen, was sie an ihren Zigeunern hatten.
Die Sachsen aber waren jetzt Flüchtlinge und keine Bauern mehr, der Boden war nicht ihr Boden. Etwa zur Hälfte blieben sie in Deutschland und Österreich. Andere waren in der sowjetischen Zone hängen geblieben, in Böhmen, Ostdeutschland oder Teilen Österreichs, und wurden zurückgeschickt. Manche kamen in Arbeitslager. Etwa 270 Sachsen kehrten schließlich heim nach Weilau.
Doch dort lebten jetzt Ungarn und Rumänen. Ältere Weilauer nennen beide Gruppen noch heute „Neusiedler“ oder „Kolonisten“. Die Sachsen durften sich dazuquetschen, geduldete Besucher auf dem eigenen Hof. Ein einziges Durcheinander muss das gewesen sein, an das sich die Alten heute nicht mehr richtig erinnern. Oder erinnern wollen.
Vermischt haben sich die Volksgruppen jedenfalls kaum, das ist bis heute so geblieben: Die Ungarn beten im katholischen, die Rumänen im orthodoxen Gotteshaus. Dass die protestantische Kirche nicht orthodox geworden ist, liegt an den Zigeunern. „Wir haben gekämpft, damit es unsere Kirche bleibt!“, erinnert sich Maria Lengyel, hebt die Rechte und ballt die hagere Faust.
Langsam, mühsam hinkt sie hinüber zur Anrichte in ihrer niederen Stube am Dorfrand. Sie zieht eine deutsche Bibel heraus, die ihr einst eine Sächsin geschenkt hat. Zerschlissen sind Naht und Einband, Eselsohren und Risse zeugen vom frommen Gebrauch. Frakturbuchstaben erzählen die Geschichten vom „Herrn Christ“. Die Bibel hat sie ihren Glauben gelehrt – und die deutsche Sprache. „Ich habe nicht gelernt zu lesen, aber meine Schwester hat mir immer die Geschichten von den Bildern erzählt“, sagt sie und deutet auf einen Schwarz- Weiß-Druck, auf dem David mit dem abgeschlagenen Haupt Goliaths zu sehen ist: „Er war ja noch ein Kind, aber er hat den Riesenmenschen besiegt!“
Nach dem Krieg kam die neue Ordnung. Äcker und Vieh wurden in Kollektiven und Genossenschaften zusammengefasst. Ab 1954 bekamen die Sachsen ihre Höfe zurück, nicht aber ihr Land. Ob Sachsen, Zigeuner, Rumänen oder Ungarn, ob Bauern, Knechte oder Tagelöhner: Alle waren jetzt Arbeiter. „Wir Zigeuner waren ja vorher nie gleich. Erst dann wurden wir gleicher“, erinnert sich die ältere Weilauerin Silvia Boros. Alles sollte anders, besser werden. „Früher haben wir im Frühjahr die Weinstöcke zugeschnitten. Dann haben wir acht Wochen gewartet, bis die Äste weinten und sich biegen ließen. Dann haben wir jeden Stock an einem Stab nach oben gebunden, wie ein Herz.“
Viel zu umständlich, fanden die Ingenieure und ließen die Stöcke herausreißen. Die alten Sorten Gutedel und Mädchentraube wurden durch neue ersetzt, die an Querdrähte statt an Stäbe gebunden wurden, zwecks Zeitersparnis. Jahrespläne wurden aufgestellt, Obstbäume gepflanzt, dem Jahr wurde der Rhythmus der neuen Zeit verpasst: Im Juni ernteten sie Sauerkirschen, dann Frühäpfel, dann Sommeräpfel, Birnen, Pflaumen, Spätäpfel, Trauben und schließlich Nüsse.
Und es funktionierte ja, die Ingenieure wussten schon, was sie taten. Und es ging ja aufwärts. Doch in der Zwischenzeit konnten sich diejenigen Weilauer, die in Deutschland und Österreich geblieben waren, schon Autos leisten, Häuser und Urlaube. Es war ein verheißungsvolles Land, dieses Deutschland, und es stand den sogenannten Volksdeutschen noch immer offen.
Und so zogen seit den Siebzigern immer mehr von ihnen in die Bundesrepublik, die letzten nach Ceaus¸escus Sturz 1989. Georg Moser ist neben seinem Bruder der einzige Sachse, der noch mit seiner Familie hier geblieben ist. Mit seiner rumänischen Frau Veronika spricht er nisch, mit Bruder und Sohn Sächsisch, daneben Romanes und ein bisschen Ungarisch. „Bloß so viel, dass sie mich nicht verkaufen können“, sagt er,während das Radio in der Stube auf Rumänisch rauscht. Der magere Mann mit den blauen Augen kauert auf einem Stuhl. „Früher mit den Sachsen war alles in guter Form und Ordnung. Jetzt ist es anders. Aber wenn man zusammenlebt, hat es keinen Sinn, sich zu streiten. Wir kommen schon aus. Ich wollte auch auswandern, aber in Deutschland haben sie die Papiere nicht bestätigt. So bin ich geblieben. Früher war es auch nicht gut, aber besser.“
Das wäre kein schlechter Schlusssatz, falls die deutsche Geschichte Weilaus hier zu Ende wäre. Falls die Zigeuner sie nicht fortschreiben würden. Dass die deutschen Wurzeln hier neue Blüten treiben, zeigt etwa der Schulbus, den eine Partnergemeinde aus Sachsen dem Ort gestiftet hat. Oder das Plumpsklo der Familie T,ut,ura, das tapeziert ist mit Postern der deutschen Popsternchen Yvonne Catterfeld, Preluders und Overground. Aufgehängt haben sie die Schwestern Adriana und Larissa T,ut,ura, die hier zusammen mit ihrer Mutter und Großmutter auf einem Grundstück leben, das ihnen einst eine alte Sächsin vermacht hat.
Adriana, die ältere der beiden Schwestern, ist 21 und ganz zierlich. Auf ihrem TShirt steht „Gothic Girl“, sie hat robuste, dunkle Locken und oft ein Lächeln um die Lippen. Das Heimweh plagt sie ein bisschen, seit sie in die Großstadt Sibiu gegangen ist, um Deutsch und Rumänisch zu studieren. Alle zwei Wochen fährt sie nach Hause. „In der Stadt muss ich mich ewig schminken und überlegen,was ich anziehe. In Weilau kann ich sein, wie ich bin. Dafür ist es hier im Dorf ein bisschen, na ja, wie in einem Dorf.“ Die Leute in der Stadt merken, dass sie Zigeunerin ist. „Sie fragen, ‚Wo warst du, dass du so braun bist?‘ Ich sage, ‚Ich bin von Natur aus so.‘ – ‚Bist du Zigeunerin?‘, fragen sie und dann: ‚Und du studierst? Sprichst du auch Romanes? Und kannst du auch so wild tanzen?‘“ Das sei ja noch harmlos, es gehe auch bösartiger. „Es heißt, wir sind schmutzig und stehlen.“ „Wir“, sagt sie – und setzt sich gleichzeitig ab. „Die anderen Leute sind auch nicht viel besser als wir! Ich will, dass die Leute sehen, dass ich studiere! Und dass ich hellere Haut habe. Ich glaube, bei uns ist mal ein Sachse reingerutscht, denn wir sind nicht so dunkel wie die richtigen Zigeuner.“
Adriana ist stolz, dass sie studiert. Als erste Zigeunerin Weilaus? „Ja!“, platzt es aus ihr heraus, sie strahlt und schaut blitzschnell zu Boden, als schäme sie sich ein bisschen für diesen Stolz in ihrer Stimme. Die alte Frau Lengyel, ihre Urgroßtante, wirft einen liebevollen Blick auf Adriana und Larissa und sagt: „Sie haben zwei gute Schädel.“
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