09.08.2023 13:11:56
RUSSLANDDEBATTE
Von Jan Balster
Jan Balster |
Zur Person: Jan Balster | |
Der Dresdner Globetrotter, Bild- und Reisejournalist Jan Balster arbeitet für in- und ausländische Zeitungen, Zeitschriften und Buchverlage. Von ihm ist unter anderem erschienen: Zu Fuß von Dresden nach Dublin (edition ost Verlag, Berlin ISBN-13: 978-3-89793-124-4, 14,90 Euro). 3.100 Kilometer legte Jan Balster zurück – auf Schusters Rappen, wie man so sagt. Vom Ufer der Elbe bis an den Atlantik, quer durch Westeuropa via Schweiz, Frankreich, Großbritannien und Irland. – Und das ohne einen Euro in der Tasche. Neu von Jan Balster: Kalender „Russland - Der Goldene Ring 2009“, „Seidenstraße 2009“, "Mongolei 2009, "Kirgisien 2009" und "Russland - Entlang der Transsibirischen Eisenbahn 2009". Umfang: Je 26 Seiten, 12 Fotografien, Preis: 15,90 Euro. Kontakt zum Autor: www.auf-weltreise.de. |
etrachten wir ein Land, welches zwar nicht zu unseren unmittelbaren Nachbarn zählt, aber ein Land, das uns beinahe täglich in den Medien begegnet. Ein Land, von dem wir nur allzu wenig wissen, welches aber seit Jahrhunderten einen ungebrochenen Einfluss auf die deutsche Geschichte ausübt: Russland.
Rufen wir uns nur einige Schicksalstage aus der Vergangenheit ins Gedächtnis. Denken wir daran, wie 1762 der russische Zar Peter III. Friedrich den Großen rettete. Durch den Friedensvertrag der beiden Herrscher wurde der Siebenjährige Krieg unter den europäischen Großmächten beendet, und Preußen ging als Sieger hervor. 1815, nach dem Sieg über Napoleon, rief Zar Alexander I. die „Heilige Allianz“ zwischen Russland, Österreich und Preußen ins Leben. 1945 befreiten die Alliierten Deutschland von Hitler und der nationalsozialistischen Diktatur, wobei der entscheidende Sieg durch die Sowjetarmee auf russischem Boden stattfand. Und schließlich leitete Michael Gorbatschow nach seiner berühmten Rede von 1986 die deutsche Wiedervereinigung ein.
Auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion blieb Russland bis heute ein friedlicher Nachbar in Europa. Mit dem Amtsantritt Wladimir Putins stabilisierte sich auch die politische und ökonomische Lage des Landes wieder. Diese war besonders nach der Herrschaft Boris Jelzins eine bemerkenswerte Aufgabe. Unter dessen Führung und seinen amerikanischen Beratern entstand jene ungeheure Korruption, deren Folge die frühkapitalistische Selbstbereicherung weniger war.
Erst Wladimir Putin konnte das Selbstvertrauen der russischen Nation wiederherstellen und auch nach außen hin festigen. Es gelang ihm auch, einen erheblichen ökonomischen Aufschwung in Gang zu setzen. Dieser Fakt ist auch dann noch beachtlich, wenn man den Vorteil seines Landes berücksichtigt, reich an Bodenschätzen wie Gas, Erdöl, Gold, und andere Edelmetalle zu sein. Über diese Schätze verfügten auch Jelzin und zurückliegende Herrscher.
Natürlich sind auch heute noch die zivilen Bürokraten - was zumindest in Deutschland nicht anders ist - und militärischen Kräfte Stützen der Regierung, des Machtapparates schlechthin. Dennoch nimmt deren Wichtigkeit ab, je mehr Vertrauen das russische Volk in seine Regierung gewinnt. Dafür spricht die große Autorität Putins. Beinahe alle Erwartungen auf Wohlstand und Wachstum waren und sind, auch nach dem Regierungswechsel im März 2008, mit seinem Namen verbunden.
Bedauerlicherweise werden in unserer westlichen Welt, die ungeheurer schweren innenpolitischen Aufgaben, mit welchen die russische Regierung zu kämpfen hat, nicht begriffen. Ebenso wenig würdigen wir die Tatsache, dass wir es in Russland mit einer friedlichen und gegenüber dem Westen kooperationswilligen Regierung zu tun haben. Das erkannte schon General Max Hoffmann. In seinem Werk „Der Krieg der versäumten Gelegenheiten“ (1918/19) schrieb er: „Es gelang uns zwar, große Teile Russlands zu erobern, aber nicht die Herzen der Russen.“
Gänzlich verschwinden wird der Machtfaktor der militärischen Kräfte in Russland nicht, weil diese nicht nur innenpolitisch, sondern auch außenpolitisch von Bedeutung sind. Russlands Militärbudget ist mit 35,4 Milliarden Dollar (2008) zwar beachtlich, jedoch steht es abgeschlagen nach Amerika mit 547 Milliarden Dollar (2008) erst an siebenter Stelle der Welt. Selbst Deutschland steht fast 20 Jahre nach Beendigung des Kalten Krieges in diesem Top-Ten-Ranking mit 36,9 Milliarden Dollar noch vor Russland.
Eine weitere Tatsache ist es, dass Russland seit 1990 seinen militärischen Machtbereich nicht ausgedehnt hat. Das kann man vom Westen, d.h. den NATO-Staaten, nicht behaupten. Die NATO-Grenzen rückten unaufhaltsam nach Osten, und nun will man sogar die Ukraine und Georgien in dieses Militärbündnis einverleiben. Was bei dieser Alle-Gegen-Einen-Mentalität entsteht, scheint uns kaum bewusst zu sein.
Zudem entstanden amerikanische Militärstützpunkte, welche auch von der Bundeswehr genutzt werden, in Zentralasien (Usbekistan, Kirgistan etc.), den ehemaligen Satellitenstaaten der Sowjetunion. Nicht nur, dass die USA den 1972 mit der ehemaligen Sowjetunion geschlossenen ABM-Vertrag (Anti-Ballistic-Missiles) am 13. Juni 2002 kündigten, welcher dem atomaren Gleichgewicht dienen sollte. Nein, die USA rückten gleich mit ABM-Systemen in den Osten Mitteleuropas nach Polen und Tschechien vor. Da bekommt Amerika Unterstützung vom Westen, der bis heute die Anpassung des KSE-Vertrages (Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa) streng verweigert. Dieser sagte den Russen 1990 während der Zwei-Plus-Vier-Verhandlungen ein militärisches Gleichgewicht der in Europa stationierten konventionellen Streitkräfte auf niedrigem Niveau zu. Amerika hat keines der Versprechen, welche es 1990 Russland gegeben hatte, je eingehalten.
Ein weiterer Punkt, der die Russen beunruhigt, ist, dass die politische Klasse der USA und viele europäische Politiker sich Russland gegenüber überheblich bisweilen herablassend verhalten. So schaffte es Angela Merkel nach ihrem Amtsantritt als Bundeskanzlerin während ihres ersten Besuches im Januar 2006 bei Präsident Putin, Oppositionelle aufzusuchen und diese zur Lage und Freiheit in Russland zu befragen. Zeigt man so, dass man seinem Gegenüber Vertrauen schenken möchte? Setzt sie damit, wie so mancher deutsche Politiker inklusive deren journalistischem Gefolge, den Kalten Krieg auf eine neue Art fort?
Westliche Politiker geben den Russen ungebetene Ratschläge und kritisieren dieses Land öffentlich massiv. Die angemahnte Demokratie ist jedoch kein Geschenk, mit dem man die Menschheit beglückt. Es ist ein Prozess von Jahren, gar Jahrzehnten, der sich in den Köpfen der Menschen vollzieht und vollziehen muss.
Jeder, der die täglichen Nachrichten auf dem Globus einigermaßen aufmerksam und ohne Vorbehalte verfolgt, spürt natürlich den Wandel, der vor sich geht. Reisende, Investoren, die das heutige Russland besuchen, ebenfalls. Wer mit den Menschen in Russland spricht, wird heute hinter den erregenden Tatsachen der Veränderung zugleich jene sittliche Gestalt des russischen Menschen erkennen, welcher in der unmenschlichsten Situation immer noch Mensch geblieben ist. Es ist jenes für uns Westmenschen vorerst schwer fassbare Etwas, das frühere Russlandbesucher von Humboldt bis Rilke in ihren Büchern als den weiten Atem der russischen Seele bezeichneten.
„Großartig ist der russische Mensch, er hat ein weites, menschliches Herz; er liebt die Erde, er liebt sein Land, er liebt seine Landsleute, er liebt die Menschen, er liebt das Leben. Nie stand über einem russischen Jugendlager wie über dem Pimpfenlager von Witten ein Spruch wie dieser: ‚Wir sind geboren, für Deutschland zu sterben’“, schrieb Friedrich Wolf 1949, der als Arzt in der Sowjetunion während des II. Weltkrieges arbeitete.
Bei einem Blick auf die Gegenseite wird der vernünftig denkende Mensch feststellen, dass unter Russen antideutsche Ressentiments erstaunlich wenig vorkommen. Vielleicht mag es daran liegen, dass der Russe aus dem letzten Weltkrieg als Sieger hervorging. Vielleicht ist es ihm bewusster als uns, welche Verluste dieser Krieg auf beiden Seiten verursachte. Ich jedenfalls habe unter den Russen in Russland niemals Argwohn gegenüber Deutschen verspürt. Umso weniger steht es uns zu, antirussische Gefühle zu kultivieren.
Gefragt ist der aufrichtige Wille, das russische Volk besser zu verstehen und achten zu lernen, jenes Volk, welches wir viele Male zutiefst verletzt und verwundet haben, dieses begabte und menschliche Volk. Oder wollen wir uns heute wirklich einer neuen Feindschaft gegenüber den Russen hingeben? Genügen nicht die Erfahrungen, welche uns das 20. Jahrhundert bot?
Mag sein, dass die Ableitung von Medwedjew медвéдь (Bär) bedeutet. Mag sein, dass der Russe das Herz eines Bären besitzt. Doch er hat auch die Pranke, die Faust desselben. Es kommt darauf an, sein Herz kennen zu lernen.
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