09.08.2023 13:11:56
LITAUEN
Von Volker Schmidt
Andrius Kubilius - aussichtsreicher Kandidat für das Amt des Premierministers in Litauen |
it seiner Kritik an Wladimir Putin und dessen als expansiv charakterisierter Geopolitik trifft Kubilius den Nerv vieler Litauer. Zumindest spricht er die an, die unter Stalin allein wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit nach Sibirien deportiert wurden. Kubilius, Jahrgang 1956, war von November 1999 bis Oktober 2000 schon einmal Premier. Seine Partei „Vaterlandsbund“ ist konservativ und nationalistisch, aber gleichzeitig noch EU-freundlicher als die Sozialdemokraten.
Der zurückgetretene Algirdas Mykolas Brazauskas, Jahrgang 1932, entstammte einer anderen Generation. Mit ihm ist der letzte aus der Profiliga der litauischen Politik zurückgetreten, der schon zu Sowjetzeiten ganz vorn mitspielte. Er war seit 1988 Erster Sekretär der litauischen Kommunistischen Partei, die unter seiner Führung im Dezember 1989 – als erste in der damaligen Sowjetunion – mit der KPdSU brach. Dass der gelernte Hydrotechnik-Ingenieur damals mit der Unabhängigkeitsbewegung Sajudis anbandelte, die Konfrontation mit Moskau riskierte und später die KP in eine sozialdemokratische Partei umwandelte, rechnen ihm viele hoch an. Anderen gilt der joviale, vierschrötige Beamtensohn dagegen als Wendehals.
Brazauskas war unter anderem Vizepremier und von 1993 an Parlamentspräsident, danach Staatspräsident. 1997 verzichtete er auf eine neue Kandidatur – auch wegen seiner KP-Vergangenheit, die ein „großes Minus für das Ansehen des Staates“ sei, wie er damals sagte.
2001 hatte Brazauskas offenbar alle historische Einsicht vergessen und ließ sich zum Premier wählen. Wendigkeit bewies er auch, als er 2004 eine Koalition mit der Arbeitspartei des Unternehmers Viktor Uspaskich einging – im Wahlkampf hatte er noch vor dem „Populisten“ gewarnt. Nun brach ihm diese Koalition das Kreuz: Gegen die Arbeitspartei wird ermittelt, sie soll EU-Geld in eigenem Interesse verteilt und illegale Wahlkampfspenden angenommen haben – unter anderem von der russischen Geheimdienst-Mafia. Parteichef Uspaskich versteckt sich seit Wochen in seiner russischen Heimat in der Nähe von Archangelsk. Als Wirtschaftsminister war er schon im Sommer 2005 zurückgetreten – unter anderem, weil er seine eigenen Interessen als millionenschwerer Unternehmer nicht von denen des Staates getrennt haben soll. Aber auch, weil die Echtheit seines Diploms in Volkswirtschaftslehre von der Universität in Moskau zum Gegenstand juristischer Untersuchungen wurde. Den Grundstein zu seinem Vermögen soll er im Umfeld des russischen Gasmonopolisten Gasprom gelegt haben.
Die Russland-Verbindungen spielen immer wieder eine Hauptrolle in der litauischen Politik. 2003 wurde Rolandas Paksas vor allem dank massiver professioneller Wahlkampfwerbung aus diesem Umfeld zum Präsidenten gewählt. Später wurde ein förmliches Amtsenthebungsverfahren gegen ihn angestrengt. Er soll seinem Haupt-Wahlkampfsponsor, dem russischen Unternehmer Juri Borisow, die litauische Staatsbürgerschaft verfassungswidrig zugeschanzt haben. Abhörprotokollen des Litauischen Geheimdienstes zufolge soll er ihn auch vor Ermittlungen gewarnt haben. Borisow, ein Freund des früheren Piloten Paksas aus dessen Fliegertagen, soll nicht nur Hubschrauber in afrikanische Bürgerkriegsländer verkauft haben, sondern auch Beziehungen zur russischen Mafia unterhalten. Der russische Geheimdienst, von der Mafia nicht immer sauber zu trennen, soll die Werbeagentur unterstützt haben, die Paksas Wahlspots drehte.
Was davon stimmt, wurde nie völlig geklärt. Zwar galt das Amtsenthebungsverfahren nach US-Vorbild als Reifetest der litauischen Demokratie – doch wie weit in Richtung Moskau die Verbindungen reichten, stand letztlich nicht zur Debatte. Es reichte, dass der Präsident verfassungswidrig gehandelt hatte und nicht mehr vertrauenswürdig war.
Die Angst der Litauer vor russischer Einflussnahme ist nicht unbegründet. Die Interessen Moskaus in der Region sind zu offensichtlich. Zuletzt war der Vertrag mit Deutschland Teil der Verärgerung im Baltikum und in Polen, als Russland beschloss, mit den Deutschen eine Pipeline unter der Ostsee zu bauen. Vor dem Beitritt der baltischen Länder zur Europäischen Union waren die russischen Interessen etwa in Bezug auf die Exklave Kaliningrad Gegenstand langwieriger Verhandlungen. Minutiös wurde unter anderem geregelt, wie schnell ein Zug durch litauisches Gebiet fahren muss, damit keine russischen Staatsbürger unterwegs abspringen und so in der EU landen. Immer wieder verweist die Putin-Regierung auch auf die problematische Lage der russischen Minderheit (vor allem in Lettland und Estland), etwa im Gegenzug gegen Vorwürfe in Sachen Tschetschenien.
Russische Medien und auch das russische Außenministerium stellen das Baltikum gern als Hort von Faschisten, Revanchisten und Geschichtsfälschern dar. Im Hintergrund steht das Geschichtsbild von Präsident Putin, der – anders als sein Vorgänger Boris Jelzin – die Annektierung der baltischen Staaten durch die Rote Armee als freiwilligen Beitritt der Länder zur Sowjetunion betrachtet. Ein halbes Jahrhundert Besatzungsregime, samt Geheimdienstterror, Deportationen und Zwangsrussifizierung, wird geleugnet. „Die Russen tun so, als gäbe es uns als selbstständige Staaten erst seit 1991“, sagt der estnische Außenminister Urmas Paet.
In Litauen ist die russische Minderheit kleiner und besser integriert als bei den baltischen Nachbarn, dafür ist die Nähe zur russischen Enklave Kaliningrad größer. Im September 2005 „verflog“ sich von dort aus ein russisches Jagdflugzeug und stürzte ab – was in Litauen prompt den Verdacht keimen ließ, es habe spionieren sollen. Ein Streit um den Piloten, der sich per Fallschirm gerettet hatte, um die Flugschreiber und angebliches radioaktives Material entspann sich. Der Vorfall war ein gutes Bespiel für den schmalen Grat zwischen berechtigtem Verdacht und hysterischer Russophobie, auf dem die politische Debatte in Litauen sich oft bewegt. Mit Algirdas Brazauskas ist zwar der letzte aus der Sowjetnomenklatura abgetreten. Doch in der Angst vor russischem Einfluss wird die Besatzungszeit noch lange nachklingen.
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Der Autor ist Korrespondent von n-ost. Das Netzwerk besteht aus über 50 Journalisten in ganz Osteuropa und berichtet regelmäßig für deutschsprachige Medien aus erster Hand zu allen Themenbereichen. Ziel von n-ost ist es, die Wahrnehmung der Länder Mittel- und Osteuropas in der deutschsprachigen Öffentlichkeit zu verbessern. Weitere Informationen unter www.n-ost.de.
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