09.08.2023 13:11:56
GENDER-PANIK IN ARMENIEN
Von Jürgen Gispert
u Zeiten der Sowjetunion kamen besonders im Sommer russische Studentinnen aus der russischen Sowjetrepublik zum Studium nach Jerewan. In der Bibliothek arbeitende Studentinnen wurden immer wieder zu Treffen von jungen Armeniern abgeholt, um dann später in beglücktem Zustand wieder zurückzukommen.
Die dahinter sich verbergende Sexualpraxis war mit wechselseitigen rassistischen Zuschreibungen verbunden: Für Russinnen war es der „wilde, dunkle Kaukasier“, mit dem man kurzfristig seinen Spaß haben konnte. Umgekehrt stand für den Armenier die Russin gerade aufgrund ihrer Bereitschaft zu einem Tete-a-tete, wenn nicht in schlechtem Licht, so doch zumindest unterhalb der Ebene, auf der eine Armenierin positioniert wurde. Das hing mit ihrer Jungfernschaft zusammen, die sie erst in der Hochzeitsnacht zu verlieren hatte. Über operative Techniken kann zumindest heute die Frau die Hochzeitsnacht verbringen, ohne zuvor auf den sexuellen Genuss verzichten zu müssen. Die Nacht mit dem frischen Ehegatten gerinnt dann – ganz rituell – zur kunstvollen Darbietung.
Auch zwanzig Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion ist es nicht ungewöhnlich, die erste Hochzeitsnacht als Jungfrau zu beginnen. Traditionelle stehen hier neben modernen Ansichten. Jedoch hat sich ein Wandel hinsichtlich der Rolle der Frau vollzogen. Armenien leidet unter einer hohen Abwanderungsquote. Das wirkt sich auf das Geschlechterverhältnis aus: Auf 1.000 Frauen im Alter von 20 bis 24 Jahren kommen nur 775 Männer gleicher Altersgruppe. Andere Männer wiederum sind im Ausland, arbeiten, um ihre Familie, die sie zurückgelassen haben, zu ernähren. Die Entwicklung drückt sich im neuen Selbstverständnis der Frauen als ausschließliche Versorgerinnen ihrer Familien aus, sie ersetzen an vielen Stellen die Männer.
Zwanzig Prozent der Frauen haben heute in Armenien einen Hochschulabschluss. Jedoch stehen den zusätzlichen Pflichten, denen die Frauen nachkommen müssen, ihrer starken Stellung, die sie im Alltag haben, immer noch überkommene patriarchalische Ansichten gegenüber. Frauen sind nicht zahlreich im Parlament anzutreffen. Stattdessen tragen sie ihre Ansichten in die NGOs hinein. Das bedeutet aber keinesfalls, dass Feminismus in diesen Kreisen – subversiv - diskutiert würde. Das Verhalten symbolisiert vielmehr die relative Ferne der armenischen Frau von der Politik, die als schmutzig gilt. Solche Geschäfte soll der Mann in die Hände nehmen. Hierzu gesellt sich aber eine generelle Abwesenheit des Dialogs zwischen Regierung und Bevölkerung. Das impliziert für den vor den Wahlen üblichen Stimmenkauf die Unterstellung, das Geld könne auch gezahlt werden, um sich als Politiker beim Wahlpublikum als pure Existenz überhaupt erst bemerkbar zu machen. Aus all dem könnte geschlossen werden, dass Termini wie Gleichberechtigung oder Feminismus diskutiert würden. Dem ist aber nicht so.
Dass Frauen selbst Begriffen wie „Feminismus“ und „Gleichberechtigung“ skeptisch gegenübertreten, hängt mit dem überkommenen patriarchalischen System zusammen. Hierzu gesellt sich eine die Gesellschaft durchdringende Homophobie. Beispielsweise wurde der weltberühmte Filmregisseur Sergej Paradjanow 1974 zu fünf Jahren Lagerhaft verurteilt. Die Begründung war u.a. der Vorwurf der Propagierung von Homosexualität. Dieser Sachverhalt wird in Armenien im offiziellen Diskurs oder privaten Austausch über ihn sorgfältig ausgeklammert.
Auch der Vorfall im Mai 2012, als von zwei Männern ein Anschlag ausging, der eine Bar in Jerewan traf, die in Verdacht stand, von Homosexuellen frequentiert zu werden, zeigt die starke Ausprägung von Homophobie. Die beiden Attentäter, die sich selbst als Neonazis bezeichneten, wurden gegen Kaution wieder freigelassen. Die Summe bezahlten zwei Politiker der Armenischen Revolutionären Föderation (ARF), denen es dabei weniger um die Unterstützung von Neonazis ging. Die Partei ist Mitglied der Sozialistischen Internationale.
Aber nicht nur deren Vertreter hießen das Verhalten der Attentäter gut. Am Internationalen Tag der kulturellen Vielfalt, dem 21. Mai 2012, sollte aus Solidarität mit der Barbesitzerin, die mittlerweile aus Furcht vor persönlichen Übergriffen nach Schweden geflohen ist, ein Marsch der Vielfalt abgehalten werden. Es gab eine Gegendemonstration von Nationalisten, die den Marsch als „gay parade“ bezeichneten. Auch drei armenische Priester waren unter den Gegendemonstranten. Sie sprachen sich gegen Homosexualität aus, aber für eine friedliche Demonstration. Es ist eine konservative Mehrheit, deren undifferenzierte Haltung hier repräsentiert wird und Probleme mit Minderheiten offenkundig werden lässt. Seitens der Gegendemonstranten war es nicht nur begrifflicher Reduktionismus, „kulturelle Vielfalt“ in „Bejahung von Homosexualität“ umzuschreiben. Dem scheint auch eine Wahrnehmung zugrunde zu liegen, die Missverständnissen Vorschub leistet, wie ein Vorgang im vergangenen Mai zeigt.
Im Mai 2013 verabschiedete das armenische Parlament ein Gesetz über die „Gleichen Rechte und Möglichkeiten für Männer und Frauen“. Es sorgte in den darauf folgenden Monaten für viel Aufregung, an der sich breite Teile der armenischen Gesellschaft beteiligten. Zivilgesellschaftliche Gruppen, Kirche, Nationalisten, staatliche Repräsentanten, zahlreiche NGOs, Menschenrechtsadvokaten, Blogger, Massenmedien, Pop Stars und politische Parteien fühlten sich dazu herausgefordert, ein Statement abzugeben.
Artikel 3 des Gesetzes schien der Stein des Anstoßes gewesen zu sein. Darin wird der Begriff Gender gebraucht, der als das „anerzogene, sozial fixierte Verhalten von Personen verschiedenen Geschlechts“ definiert wurde. Viele interpretierten das Gesetz als Projekt zur Zerstörung der traditionellen armenischen Werte und bezogen sich dabei vor allem auf Gender.
Protokolle, die innerhalb vieler Jahre zuvor schon die Gleichheit der Geschlechter zum Gegenstand hatten, wurden ohne Reaktion wahrgenommen. Nun aber wurde Gender verwendet und wurde zum Fanal vielfältiger negativer Zuschreibungen. Gender symbolisierte das Perverse und Sündige, schadete der Tradition von Familie, den armenischen Werten, auch der armenischen Geschichte. Gender wurde auch mit Transvestiten, gar mit gay gleichgesetzt. Aufgrund des Aufruhrs änderte die Regierung das betreffende Gesetz wieder - Gender wurde einstimmig durch „Männer und Frauen“ ersetzt.
Im armenischen Wörterbuch finden wir für „Gender“ das Wort „ser“, was wiederum auf das (biologische) Geschlecht verweist. Der armenische Anthropologe Levon Abrahamyan schreibt in seinem Hauptwerk (Armenian identity in a changing world. Costa Mesa/Kalifornien 2005 ) über den Zusammenhang von Nation und Familie: Innerhalb der armenischen Kultur gibt es eine lange Tradition, ausländische Wörter ins Armenische zu übersetzen, selbst neue Wörter zu erfinden, um die ausländischen zum Sprechen zu bringen. Bei „Nation“ war das nicht der Fall. Als im 19. Jahrhundert die modernen Konzeptionen Nation und Nationalismus aufkamen, verwendeten die Armenier „azg“ und nicht „Nation“. Nämlich, so Abrahamyan weiter, bezieht sich „azg“, ähnlich wie das lateinische „natio“, auf Bedeutungen wie Stamm, Sippe, Klan, Volk, Ordnung, Klasse. Jedoch, und im Gegensatz zum ausländischen „Nation“, hat das armenische „azg“ seine Nähe zur Bedeutung von Sippe oder Familie nie verloren.
Hinzuzufügen sei die Bemerkung, dass man sich auch in anderer Hinsicht symbolisch des „azg“ bediente, um sich von „Nation“ abzugrenzen: Mit Nation war immer das Fremde, auch Feindliche zu verbinden. Deshalb muss man vorsichtig sein, westlichen Nationalismus auf armenische Verhältnisse zu übertragen, ohne das „azg“ mitzudenken. Wenn sich beispielsweise die zwei Attentäter „Neonazis“ nennen, muss man im vorstehenden Kontext auch die Möglichkeit in Betracht ziehen, ob es sich bei ihnen nicht um „verdeckte“ Attentäter handeln könnte. Wie gesehen, konnten die ARF-Vertreter ohne Skrupel die beiden freikaufen. Auch kam in der hitzigen Debatte über Gender der Gedanke auf, dass die Aktion gegen die Regierung lanciert gewesen sein könnte und es einen Präzedenzfall darstellen könne, über solche Aktionen zur Destabilisierung beizutragen. Einen Umsturz würde vielleicht der Präsident nicht überleben, dafür aber das System des „azg“.
Die Frage, warum Gender eingeführt wurde, lässt sich anhand vorstehender kleinen Untersuchung beantworten, stößt aber bei seiner Rezeption seitens Regierung und Bevölkerung auf einige Widersprüche. Der obigem Prozess zugrundeliegenden Methodik aus Import und verschiedenen Strategien der Inkorporation sowie der traditionellen Sympathie gegenüber westlichen Kulturen mag vermutlich der Wunsch geschuldet sein, Gender mit aufzunehmen. Damit tauchen aber auch Probleme auf. Zuerst einmal wird der Begriff im Gesetz in emische Begrifflichkeiten übersetzt, was die Aufnahme des Wortes eigentlich nicht rechtfertigen würde. Weiterhin muss gefragt werden, ob die Regierungsvertreter tatsächlich glauben, mit Gender das zu erfassen, was Gender-Mainstreaming meint. So kamen zwei in ihrer praktischen Umsetzung heterogene Begriffe zur Überlagerung. Bei der Bevölkerung begann die Konfusion.
Es gilt als hundertprozentig sicher, dass der neue Begriff systemunterstützend genutzt werden sollte. Folglich hätte die herrschende Oligarchie erhalten werden sollen. Somit nützte die begriffliche „Innovation“ zwar den Oligarchen, den Frauen, um die es bei Gender Mainstreaming hätte gehen sollen, jedoch nicht - zumal sie angeblich von Politik wenig wissen wollen.
Auf der Seite der Bevölkerung beschwerten sich Vertreter von Elternverbände, Gender würde die Familie zerstören. Indem Gender als Gleichsetzung, Identifizierung von Mann und Frau verstanden wurde, kamen bizarre Visionen auf: So wurde vermutet, dass nun bald die Aufstellung von Denkmälern mit Frauen in der Stadt zu sehen seien. Auch wurde befürchtet, Schriftsteller würden „Mutter Armenien“, die hoch über der Stadt im Siegespark stehende Statue, ein männliches Geschlecht geben. Es gäbe dann weibliche Priester, Frauen als Generäle usw. Auf diese Weise wurde alles mit seinem Gegenteil identifiziert und Gender zugeschrieben.
Schließlich: Indem sie unter Gender gay verstanden, hatten sich die Protagonisten der Gegenseite ironischerweise selbst indirekt als gay geoutet. Die Regierung hat auf Gender als zu inkorporierendes Element vermeintlich westlicher Moderne reagiert, die Bevölkerung als fremd-feindliches. Zur Homophobie gesellt sich hier bedingte Xenophobie: „Wir sind ein kleines Volk, Schwule tragen nicht zur physischen Reproduktion bei und jetzt kommt auch noch 'Gender'.
Der Begriff im westlichen Kontext, vor allem Gender Mainstreaming (als ideologische Praxis) als importierter Begriff, hat mit dem armenischen „ser“ wenig zu tun. Er wurde, auf den ersten Blick gesehen, begrifflich korrekt ins Armenische übertragen. Wenn wir aber das armenische ser in die importierte Terminologie zurückübersetzen, erhalten wir keinesfalls Gender Mainstreaming. Warum ist das so?
Um diese Frage zu lösen, sollen die jeweiligen Zuschreibungen aus Deutschland und Armenien dessen, was unter Gender verstanden wird, verglichen werden. In erster Linie und angesichts der Gleichsetzung von Gender mit gay durch die Bevölkerung gilt es, den Text nach eben der Zulässigkeit gleichgeschlechtlichen Verkehrs zu durchsuchen. Das Wort für Homosexualität selbst taucht im Text nirgendwo auf. Im ersten Absatz wird Gender definiert als „das erworbene, gesellschaftlich verankerte Verhalten von Personen verschiedenen Geschlechts, ein soziales Konzept für Beziehungen zwischen Frauen und Männern, das in allen Bereichen des öffentlichen Lebens, einschließlich der Politik, Wirtschaft, des Rechts, der Ideologie, Kultur, Bildung, Wissenschaft und des Gesundheitswesens zum Ausdruck kommt.“ Verwirrung scheint das Adjektiv „erwerben“ zu bereiten. Ich fragte einen langjährigen libanesisch-armenischen Freund, der in Jerewan wohnt. Er sagte mir, dass in diesem Passus „Homosexualität“ stehen würde, obwohl es wörtlich nicht da steht, und verwies auf „erworben“. Das „erworben“ als Möglichkeit der Zulässigkeit von Homosexualität kann in diesem Zusammenhang jedoch nicht ohne den Gebrauch von Gender gesehen werden. Denn das Wort alleine löste schon entsprechende Reaktionen aus. Es färbt aus der Innensicht auf den Sinngehalt der anderen Worte des Satzes ab – angesichts Gender wurde das Eigene zum Fremden!
Schauen wir uns auf der Gegenseite den Zusammenhang von Homosexualität und Gender in der deutschen Zuschreibung an. Den Studien zufolge gibt es kein vorgefertigtes Geschlecht, vielmehr ist es ein Konstrukt historischer und kultureller Herkunft. Es wird aber wörtlich auf „Gruppen wie Homosexuelle oder Intersexuelle“ verwiesen. Im Deutschen haben wir demnach den dezidierten Verweis auf Homosexuelle, im Armenischen die Möglichkeit, den Text so zu deuten. Diesbezügliche Deutungsmöglichkeit bieten dann solche Ereignisse wie 2012, als die Bar bombardiert wurde. Angesichts grundsätzlich herrschender Homophobie bedeutet das für die Menschen im Zusammenhang mit dem Gesetzestext die Chance, inhaltlich anzuschließen. Um kulturelle Verschiedenheiten und Gemeinsamkeiten zwischen Deutschland und Armenien im Kontext zu verbinden, bediene ich mich der Kulturdefinition des sowjetischen Wissenschaftlers Jurij Lotman. Danach kann „Kultur als das nichtvererbbare Gedächtnis eines Kollektivs verstanden werden, das in einem bestimmten System von Verboten und Vorschriften seinen Ausdruck findet. [...] Gleichzeitig erscheint Kultur - das System des kollektiven Gedächtnisses und des kollektiven Bewußtseins - als eine für das jeweilige Kollektiv einheitliche Wertstruktur". Das heißt für Gender, dass für Deutschland und Armenien je verschiedene Voraussetzungen und Konsequenzen seiner praktischen Umsetzung gelten.
Das bedeutet beispielsweise für das biologische Geschlecht, dass es in beiden Kulturen gleichermaßen durch soziokulturelle Einwirkungen überformt wird. Der praktische Diskurs jedoch läßt den Unterschied offensichtlich werden. „Erworben“ lässt vielleicht die Konnotation zu, innerhalb der aktuellen Gesellschaftsformation der Homosexualität zuzuneigen, jedoch findet sie in der gesellschaftlichen Praxis ihre Beschränkung. Schließlich liegt im Text die Betonung auf „Männer“ und „Frauen“ mit konstant erscheinender Rollenverteilung.
Gender-Mainstreaming bedeutet im westlichen Diskurs, dass alle Geschlechter in sämtlichen Bereichen gleichgestellt werden. Das schließt Homosexuelle unbedingt mit ein, in Armenien jedoch aus. Das betrifft besonders den Stellenwert der Diskriminierung, die sich im armenischen Text formal auf die Unterscheidung und Beschränkung des Verhältnisses zwischen Männer und Frauen und diese selbst bezieht. Die „Politik der Gendergleichstellung“, so weist der armenische Text aus, beinhaltet eine „staatliche, öffentliche gezielte Aktivität, die [auf] die Gewährleistung der wahren Gleichstellung von Frauen und Männern in allen Bereichen des öffentlichen Lebens“ abzielt. Im Falle Deutschlands bzw. Europas war der Feminismus ursprünglich eine soziale Bewegung. Die Stoßrichtung war also vertikal von unten nach oben ausgerichtet. Mittlerweile jedoch hat sie sich umgekehrt, beginnt institutionell in Brüssel und wirkt sich im Falle Deutschlands in den einzelnen gesellschaftlichen Bereichen in alldurchdrinGender Weise aus. Im universitären Bereich gibt es nicht nur einzelne, scheinbar autonome Gender-Institute, jede andere universitäre Einrichtung aber soll die Gender-Vorgaben erfüllen. Stand im Falle der sozialen Bewegung des Feminismus die Gesellschaft politisch und ideologisch zur Disposition, so stellt der Neoliberalismus, so reaktionär er auch sein mag, unwidersprochen die Rahmenbedingung für die Gender-Durchsetzung dar. Trauriger Höhepunkt dessen ist der Jubel von Alice Schwarzer über die Kanzlerschaft einer Frau!
In Armenien wiederum haben wir es bei der Implementierung des Begriffs mit einer horizontalen Bewegung zu tun. Formal geht es um die Durchsetzung der Gleichstellung von Männern und Frauen Tatsächlich aber löst die Benutzung des Begriffes gegenläufige Bewegungen auf. Alles scheint beim Alten zu bleiben, wobei auf beiden Ebenen, Regierung wie Bevölkerung, das „Azg-Prinzip“ erhalten bleibt.
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