09.08.2023 13:11:56
Von Hans Wagner
EM – Als am 10. April die Plünderungen in der gefallenen irakischen Hauptstadt Bagdad begannen, wurden zuallererst das Erdölministerium und das Innenministerium von US-Truppen abgesichert. Die Ölquellen im Süden des Landes und auch die Förderanlagen in den nordirakischen Städten Kirkuk und Mossul waren gleich nach ihrer Eroberung von starken Truppenkontingenten der amerikanisch-britischen Invasionsarmee eingeschlossen und bewacht worden.
Das Privateigentum der Menschen in den großen Städten, die übrigen 35 Ministerien der irakischen Hauptstadt, die Museen und Banken hingegen überließen die Besatzer dem Mob der Straße.
Bilder, die kaum jemand für möglich gehalten hatte, gingen um die Welt. Nicht nur Altertumsexperten stockte vor Entsetzen der Atem. Das Fernsehen zeigte, wie Kulturschätze aus 8000 Jahren Menschheitsgeschichte auf Lastwagen geworfen und abtransportiert, wie sie verbrannt und zerschlagen wurden. Ein Vertreter der Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft, Kultur und Kommunikation (UNESCO) in Jordanien sprach von rund 170.000 Kulturgegenständen, die Opfer der Plünderungen und Zerstörungen geworden seien.
Unwiederbringliche Zeugnisse vom Beginn der menschlichen Zivilisation, zusammengetragen von Generationen von Archäologen, gingen binnen weniger Stunden für immer verloren. Die britische Archäologin Eleanor Robson sagte angesichts dieses Frevels voller Sarkasmus: „Es ist so, als ob jemand vor einem Autounfall gerettet wurde, nur um nun von einem Bus überfahren zu werden.“
Michael Petzet, Vorsitzender des internationalen Rates für Denkmalschutz ICOMOS nannte die ungeheuerlichen Zerstörungen ein „Verbrechen an der Menschheit“. Es sei unfaßbar, daß dies geschehen konnte. Derartiges Verhalten widerspräche allen internationalen Konventionen. Die Besatzungsmacht sei verpflichtet gewesen, solche kriminellen Übergriffe zu unterbinden. Petzet: „Ein minimaler Aufwand hätte genügt, das Geschehen zu verhindern.“
Augenzeugenberichte sprechen tatsächlich davon, daß die Plünderungen unter den Augen amerikanischer Soldaten geschahen - obwohl man sie immer wieder aufgefordert habe, ihnen Einhalt zu gebieten. Die New York Times berichtete beispielsweise darüber, wie der Archäologe Raid Abdul Ridhar Muhammed am 10.April Plünderer aus dem Bagdader Nationalmuseum vertreiben konnte, weil ihm zunächst fünf Soldaten der US- Marines dabei halfen, indem sie Warnschüsse abgaben. Aber eine halbe Stunde später seien die Plünderer wieder gekommen. Diesmal hätten sie ihr Unwesen ungehindert treiben können, denn die US-Armee habe sich plötzlich geweigert, zu helfen.
Das Blatt zitiert den irakischen Wissenschaftler Raid Abdul Ridhar Muhammad schließlich mit einem Appell, den er an US-Präsident Bush gerichtet habe: „Die Identität eines Landes, sein Wert und seine Kultur bestehen in seiner Geschichte. Wenn die Kultur eines Landes geplündert wird, wie es mit unserer in diesen Tagen geschehen ist, ist seine Geschichte zu Ende. Bitte, sagen Sie das Präsident Bush. Bitte erinnern Sie ihn daran, daß er versprochen hat, das irakische Volk zu befreien. Aber daß dies keine Befreiung ist, sondern eine Demütigung.“
Der Bagdader Museums-Kurator Dr. Donny George erklärte in CNN, er sei am 12.April zusammen mit dem Vorsitzenden des Staatlichen Irakischen Kulturrats zum Hauptquartier der US-Marines im Hotel Palestine gegangen. George: „Wir warteten vier Stunden, bis wir einen Oberst trafen. Er versprach an jenem Tag, er werde gepanzerte Fahrzeuge schicken, um das zu schützen, was vom Museum noch übrig war. Aber bis jetzt ist nichts angekommen.“ Später habe Außenminister Colin Powell erklärt, man werde das Museum schützen. Aber auch dies seien leere Versprechungen geblieben.
Bei Mitarbeitern des Museums aber auch bei Passanten und internationalen Beobachtern lautete die spontane Einschätzung der unglaublichen Vorgänge: „Was sich hier abspielte, war gezielte Plünderung, war geplanter Raub!“ Donny George: „Die Täter kannten sogar die geheimen unterirdischen Depots. Das waren Kenner, organisierte Kunstdiebe. Sie haben nur die wertvollen Originale mitgenommen und ließen Kopien stehen“.
Im Januar 2003 sprachen amerikanische Archäologen im US-Verteidigungsministerium vor. Sie wiesen angesichts des bevorstehenden Krieges eindringlich auf die Gefährdung der wertvollen Kulturgüter im Irak hin. Dabei wurde das Pentagon auch genau über Ort und Wert der irakischen Altertümer unterrichtet.
Einer der Experten, der Archäologe und Irak-Kenner Prof. McGuire Gibson von der Universität Chicago, kam insgesamt sogar dreimal zusammen mit Kollegen ins Pentagon. Er warnte davor, daß ein einziger Tag Nachkriegschaos ausreiche, um das zentrale irakische Museum zu zerstören. „Sie müssen das Nationalmuseum vor Plünderungen sichern“, forderte er. Als die Luftangriffe auf den Irak bereits begonnen hatten, warnte er in einem Artikel vom 21.März, veröffentlicht im Wissenschaftsmagazin „Science“, noch einmal eindringlich vor der Gefährdung der irakischen Kulturgüter. Er berichtete über eine Initiative des Archäologischen Instituts Amerikas (AIA) und der Amerikanischen Vereinigung für Forschungen in Bagdad, die seit Monaten Angaben über Standorte archäologischer Stätten zusammentrugen und dem Pentagon übermittelten, um die Bedeutung des Iraks für das Weltkulturerbe deutlich zu machen. Die Liste umfaßte mehr als 4000 Stätten. Auch auf den dringenden sofortigen Schutz des Nationalmuseums wurde erneut hingewiesen. „Drei Wachen und ein Panzer würden ausreichen“, zitiert Gibson AIA-Direktor Waldbaum.
Bei den Besprechungen vom Januar 2003 im Pentagon wurden neben den Archäologen auch Mitglieder einer US-amerikanischen Lobbyisten-Vereinigung von Kunsthändlern und –sammlern vorstellig. Die private Vereinigung trat zum Entsetzen der AIA-Experten mit ganz anderen Forderungen an die Regierung Bush heran. Sie solle doch im Falle eines Regimewechsels in Bagdad dafür sorgen, die allzu strengen irakischen Ausfuhrbestimmungen für Kulturgüter zu lockern.
Der sich „American Council for Cultural Policy“ (ACCP) nennende Verein war bis zu diesem Zeitpunkt vor allem dadurch aufgefallen, daß er sich für den in New York rechtmäßig wegen Hehlerei verurteilten Kunsthändler Frederick Schultz eingesetzt hatte. Schultz war zu knapp drei Jahren Gefängnis verurteilt worden, weil er einen in Ägypten gestohlenen Pharaonenkopf für 1,2 Millionen Dollar verkaufte. Das Diebesgut war einige Jahre zuvor als billiges Touristensouvenir getarnt außer Landes geschmuggelt worden.
Der Verein ACCP ist erst im vergangenen Jahr gegründet worden, als sich die US-Invasion des Iraks bereits abzeichnete. Daß ausgerechnet diese Gruppierung es schaffte, bei Vorsprachen der Archäologen im Pentagon anwesend zu sein, war für viele der Experten „in höchstem Maße beunruhigend“. Mit diesen Worten äußerte sich der bekannte britische Archäologe Alex Hunt, als er davon erfuhr.
Der Vorsitzende des ACCP, Aston Hawkins, ist der ehemalige Vizepräsident und juristische Berater des New Yorker „Metropolitan Museum of Art“. Heute fungiert er als Rechtsberater der „New Gallery“, eines neuen Museums in New York. Er argumentiert reichlich ungeniert: „Nur durch den Export aus dem Irak können Kulturgüter vor der Unsicherheit in der Post-Saddam-Ära geschützt werden.“ Die US-Zeitschrift „Art Newspaper“ zitiert ihn mit der abenteuerlichen Behauptung, die weltweite Verstreuung von Kulturgütern sei ein Garant für deren Erhaltung.
Patty Gerstenblith ist Spezialistin für internationales Antiquitäten-Handelsrecht beim Archäologischen Instituts Amerikas (AIA). Sie ist außerdem eine exzellente Kennerin der Beziehungen zwischen der Bush-Regierung und den knallharten Interessenvertretern der Kunsthändler vom ACCP. Sie sprach lange vor der Katastrophe, ganz offen davon, daß sich die Sammler und Händler des exklusiven ACCP, die ihre Begehrlichkeit so unverblümt äußerten, die Schätze Mesopotamiens möglichst legal unter den Nagel reißen möchten. Das erklärte Ziel des ACCP bestehe darin, „Länder mit reichen archäologischen Ressourcen dazu zu bringen, ihre Gesetze für den Export von Antiquitäten zu lockern und die Vereinigten Staaten zu ermutigen, die Gesetze für den Import von kulturellen Objekten abzuschwächen“, so Gerstenblith. Sie sagte, die irakischen Gesetze stammten aus der Zeit vor Saddam Hussein und seien sehr gut. Die Sammler des ACCP wollten sich über die nunmehr geforderten Gesetzesänderungen die Schätze Mesopotamiens aneignen. Ihre Einschätzung: „Die Chancen dieser Leute sind gar nicht mal so schlecht. Es geht zwar nur um 50 Personen, aber ihr Wort wird in Washington gehört.“
Diese Frage wird viel diskutiert, rund um den Erdball. Eine zufriedenstellende Antwort darauf wird man vielleicht niemals finden. Schon nach dem ersten Golfkrieg wurden Tausende von Kunstwerken außer Landes geschmuggelt. Großen Statuen wurden damals bedenkenlos die Beine abgesägt, damit sie besser in unauffällige Koffer paßten. Noch bis Mitte der neunziger Jahre tauchten die Objekte im internationalen Kunsthandel auf.
Jane Waldbaum, Direktorin des AIA erklärt: „Werke aus allen Epochen sind in Gefahr - sumerische Schrifttafeln, Statuen, assyrische Steinreliefs, fünftausend Jahre alte Rollsiegel, Goldschmuck und Schätze des Islam. Man wird sehen, was davon nächstes Jahr alles in den Auktionshäusern auftauchen wird, in der Schweiz, in London und New York.“
In der Zeitschrift „Neue Solidarität“ 17/2003, wird ein besonders krasser Vorwurf erhoben: Die Plünderung und Zerstörung der weltweit einzigartigen Museen und Bibliotheken des Irak seien, wie der Autor Muriel Mirak-Weissbach schreibt, „kultureller Völkermord“. Dieser Raub und die Ausplünderung der irakischen Sammlungen werden als ein Verbrechen gewertet, das „die Geschichte und damit die historische Identität eines ganzen Volkes, einer Kulturnation“ vernichte.
Das Bagdader Museum beherbergte die weltgrößte Sammlung mesopotamischer Kunst und dokumentierte eine einzigartige geschlossene Spanne der Zivilisationsgeschichte von den Sumerern über die Akkader, Assyrer und Babylonier bis hin zur islamischen Zeit. Die Archäologin Roberta Venco von der Universität Turin sagte: „Man kann unmöglich die Geschichte des Nahen und Mittleren Ostens erforschen, ohne dieses Museum besucht zu haben.“
Zu den wichtigsten Schätzen gehörten parthische Skulpturen aus Hatra, datiert aus dem 2. Jahrhundert v.Chr., Schmuck aus den Königsgräbern von Ur, die rund viertausend Jahre alt sind, goldene Artefakte aus den Gräbern der assyrischen Königinnen in Nimrud. Auch eines der ältesten Exemplare des Koran, Steintafeln mit den Gesetzen Hammurabis und dreißigtausend bis vierzigtausend Tontafeln mit Cuneiform-Inschriften, darunter die ältesten Schrifttafeln der Welt aus dem 3.Jahrtausend v.Chr. – Im Land zwischen Euphrat und Tigris wurde die Schrift erfunden.
Die Verluste und Verwüstungen im irakischen Nationalmuseum sind die größte kulturelle Tragödie dieses Krieges, aber beileibe nicht die einzige. Auch die Nationalbibliothek und das Nationalarchiv des Iraks wurden niedergebrannt. Von dem verheerenden Feuer am 14. April gibt es einen Augenzeugenbericht des Korrespondenten Robert Fisk von der britischen Zeitung „Independent“. Er berichtet von dem Großfeuer, dem neben einer umfassenden Sammlung historischer Dokumente aus osmanischer Zeit - darunter die Königsarchive des Irak - auch zeitgenössische Dokumente über den irakisch-iranischen Krieg 1980-88, sowie ein Archiv arabischer Zeitungen seit 1900 auf Mikrofilm zum Opfer fielen: „Als ich in Sichtweite der Koran-Bibliothek kam, schlugen die Flammen schon 30 Meter hoch aus den Fenstern. Ich rannte zum Büro der Besatzungsmacht, dem Büro der US-Marines für Zivilangelegenheiten. Ein Offizier rief einem Kollegen zu: ,Der Kerl hier sagt, irgendeine biblische Bibliothek brennt.' Ich gab ihnen den Ort auf dem Stadtplan an, den genauen Namen - auf englisch und arabisch - ich sagte, man könne den Rauch schon vier Kilometer weit sehen und könne in fünf Minuten hinfahren. Eine halbe Stunde später war kein einziger Amerikaner weit und breit zu sehen - und die Flammen schlugen 60 Meter hoch.“ (Zitiert nach DIE WELT).
Fisk berichtet auch, es bestünde kein Zweifel, daß die Plünderungen des Nationalmuseums und der anderen kulturellen Sammlungen professionell organisiert gewesen seien. Das arabische Fernsehen habe gezeigt, wie Plündererbanden mit großen Lkws vor den Gebäuden vorgefahren seien und sie beladen hätten. Donny George zeigte nach Aussage von Fisk den Reportern Glasschneider, mit denen Fenster und Vitrinen geöffnet worden waren. Diese Fabrikate seien im Irak unbekannt gewesen und müßten von außen eingeführt worden sein.
Der britische Reporter zitiert Donny George auch mit der folgenden Beobachtung: „Einer der gestohlenen Gegenstände ist eine 7000 Jahre alte Bronzebüste. Sie wiegt mehrere hundert Kilogramm und wurde aus dem zweiten Stockwerk weggeschafft.“ Das seien niemals chaotische Plünderer gewesen, sondern Berufsverbrecher.
Diese wußten offensichtlich sehr genau, was sie stehlen sollten. Das Museum stellte auch viele Kopien von Stücken aus, deren Originale im Britischen Museum, im Louvre oder in Kairo stehen. Von diesen Kopien wurde nach übereinstimmender Aussage der Fachleute keine einzige gestohlen, nur die kostbaren Originale! Es soll inzwischen auch Berichte geben, wonach „eine New Yorker Kunstorganisation“ erst vor kurzer Zeit einen Katalog der wertvollen Stücke angefertigt hat. Diese Gerüchte sind bislang allerdings unbestätigt.
Auf einem Dringlichkeitstreffen der UNESCO am 17.April in Paris, wo man erste Einschätzungen des Schadens vornahm, sagte der Vorsitzende der Amerikanischen Vereinigung für Forschungen in Bagdad, Prof. McGuire Gibson von der Universität Chikago: „Es sieht so aus, als seien einige der Plünderungen eiskalt geplant gewesen. Die Täter hatten sogar Tresorschlüssel und konnten wichtiges mesopotamisches Material aus den Panzerschränken des Museums wegschaffen.“ Er sei sich ziemlich sicher, daß dies vom Ausland aus organisiert wurde.
Die Planer im Pentagon waren von den Ereignissen keineswegs überrascht worden. Nicht nur hatten die Archäologen frühzeitig gewarnt, auch jedem der militärischen Fachleute war klar, daß es nach dem Sturz des Regimes in Bagdad zu Chaos und Gesetzlosigkeit kommen würde. Wie die „Washington Post“ am 14. April berichtete, ging man im Pentagon auch von einer solchen Einschätzung aus.
Die US-Regierung unter Präsident Bush hat also mit Plünderungen rechnen müssen und wohl auch gerechnet – unternommen hat sie dagegen jedoch nichts. US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld wird in einigen US-Medien mit den Worten zitiert: „Das ist wie Randale am Rande von Fußballspielen - niemand mag es, niemand erlaubt es. Es passiert aber und das ist bedauerlich“. Seines Wissens hätten die US-Bodentruppen keine Anweisung gehabt, die Museen besonders zu schützen.
Solche Verniedlichungen werden allerdings selbst in den USA nicht mehr uneingeschränkt geglaubt. „Die Vereinigten Staaten planen Plünderung irakischer Antiquitäten“ titelte der „Sunday Herald“ nachdem Einzelheiten über das Treffen vom Januar im Pentagon bekannt wurden. Die ACCP-Forderung, man müsse die einengenden (retentionist) Zollbestimmungen der Ära Saddam Hussein liberalisieren, wie vom Schatzmeister des Vereins, William Pearlstein, gefordert, hatte die öffentliche Meinung zu diesen Vorgängen beeinflußt. Pearlstein hatte außerdem verlangt, die US-Regierung solle das Gesetz über Kulturbesitz (Cultural Property Implementation Act) abschaffen, damit andere Länder den Import von Kulturgütern in die USA nicht so leicht verhindern könnten.
Die Forderungen der amerikanischen Kunst-Lobbyisten hatte bei Archäologen die Alarmglocken läuten lassen. ProfessorLord Renfrew of Kaimsthorn aus Cambridge erklärte: „Die Gesetze des Iraks über Altertümer schützen den Irak. Das Letzte, was wir jetzt brauchen, ist, daß sich eine mit Händlern verbundene amerikanische Gruppe einmischt. Eine Änderung der Gesetze wäre ungeheuerlich.“
Altorientalist Prof. Dr. Walter Sommerfeld von der Universität Marburg, der vor wenigen Monaten noch selbst im Bagdader Nationalmuseum gearbeitet hatte, sagt: „Mir fällt nur ein einziges Ereignis von einer ähnlichen Schreckensdimension ein, und das ist der Mongolensturm von 1258. Damals ist auch alles zerstört worden, was die Kultur des Irak ausmachte. Der Irak hat 700 Jahre gebraucht, um sich davon zu erholen. Erst im letzten Jahrhundert ist das wieder gelungen. Was jetzt passiert ist, ist eine ähnlich umfassende vollständige katastrophale Zerstörung des kulturellen Erbes des Irak, die wahrscheinlich nie wieder auch nur ansatzweise zu reparieren und wiederherzustellen sein wird.“
Über die Bedeutung dieses Verlustes für das irakische Volk läßt Sommerfeld keinen Zweifel aufkommen. Auch er spricht hier indirekt von „kulturellem Völkermord“: „Worauf sollte man stolzer sein, im Irak, als darauf, die Wiege der Zivilisation zu beherbergen und über die längste zusammenhängende Hochkonjunktur der Weltgeschichte überhaupt zu verfügen? Das hat man sehr gepflegt. Es sind in guten Zeiten unglaubliche Etats in den Antikendienst dieses Landes investiert worden. Wer das zerstört hat, wer diese Zerstörung zu verantworten hat, der hat den Nationalstolz des Irak ins Mark getroffen.“
Sommerfeld berichtet, daß im Irak zeitweise ganze Jahrgänge von Universitätsabsolventen in den Antikendienst übernommen worden wären – zumindest so lange, bis das Wirtschaftsembargo nicht zu einer Verarmung des Landes geführt hätte. Um Museen aufzubauen, Personal zu schulen, um auszugraben und zu restaurieren, seien viele hundert Millionen Euro ausgegeben worden. Der Irak habe sich sein kulturelles Erbe sehr viel kosten lassen. Sommerfeld: „Einen solchen archäologischen Etat hat es auf der ganzen Welt nirgendwo jemals gegeben in der Geschichte.“
Auch der Mainzer Archäologe Dr. Michael Müller-Karpe bestätigt den hohen Standard des irakischen Antikengesetzes: „Es gehört zu den fortschrittlichsten und besten der Welt. Es war sehr strikt. Der Schutz des archäologischen Erbes stand an oberster Stelle. Beispielsweise war der Privatbesitz archäologischer Dinge verboten. Der Export war dadurch praktisch unmöglich. Es gibt nun aber offenbar Leute, die das ändern wollen, und das ist sehr bedenklich. Gerade der illegale Kunst- oder Antikenmarkt hat in den vergangenen Jahren erschreckende Ausmaße angenommen. Man sagt, der Antikenmarkt sei im Begriff, den Rauschgiftmarkt an Finanzvolumen zu überholen. Das heißt, man kann hier wirklich Geld machen.“
Kenner der Szene haben es vorausgesehen. Sie befürchteten schon vor dem Einmarsch der US-Truppen in Bagdad die Antiquitäten-Plünderung. In der „Süddeutschen Zeitung“ schrieb Sonja Zekri am 04. April 2003, eine Woche vor dem Fall der irakischen Hauptstadt, nun drohe nach der militärischen Zerstörung der Kulturraub durch die USA: „Archäologen bangen um das Minarett von Samarra, um die Wüstenstadt Hatra, um Ur und Ninive. Mehr noch aber fürchten sie den Frieden, jene „Epoche des Betrügens zwischen zwei Epochen des Kriegführens“ (Ambrose Bierce). Das Vakuum nach der Schlacht, so die Sorge, könnte mehr Schaden anrichten als die Kämpfe, denn es droht eine Plünderungswelle, gewaltiger noch als jene nach dem Golfkrieg. Damals fielen Menschenmassen in die Museen des Irak ein, die meisten wurden geplündert, jahrtausendealte Schätze gestohlen oder zertrampelt. Tausende Objekte tauchten auf dem Schwarzmarkt wieder auf.“
Zum Funktionsprinzip der neuen Ausbeutung schrieb die SZ-Autorin: „Arme Länder mit reicher Geschichte verkaufen reichen Ländern mit besseren Wissenschaftlern und schöneren Museen ihr kulturelles Erbe: Die Vorschläge der neokolonialen Pressuregroup verraten nicht nur den Wunsch, den Antikenmarkt in den Vereinigten Staaten zu beleben. Selbst wenn der Kulturrat die Gesetze des Irak nicht antastet, deutet sich hier im Kulturellen eine auf Macht, Geld und Überwältigung angelegte Strategie an, die der Welt politisch gerade den Atem raubt.“
Seit 1954 gibt es die internationale Haager Konvention zum Schutz von Kulturgütern in bewaffneten Konflikten, die diesen Schutz eindeutig den siegreichen Truppen zuweist. 1972 wurde zudem eine UNESCO-Konvention zum Verbot und zur Verhütung der unzulässigen Einfuhr, Ausfuhr und Übereignung von Kulturgut verabschiedet. Diesen sind die USA aber bis heute nicht beigetreten.
Die russische Regierung macht die von den USA geführten Truppen für den ungenügenden Schutz der historischen und religiösen Stätten verantwortlich. Rußland teile die Besorgnis der UNESCO über das Schicksal des kulturellen Erbes, sagte der Sprecher des Moskauer Außenministeriums, Alexander Jakowenko.
Die „Financial Times Deutschland“ bringt es auf den Punkt: „Selten gab es so wenig Unterschiede zwischen Kunsthandel und Hehlerei [...] Daß gerade das Bagdader Nationalmuseum hemmungslos ausgeplündert wurde, ist für die Geschichtsschreibung des Orients ein Skandal, an den die Amerikaner noch lange erinnert werden dürften.“
Das Zentral-Museum Bagdad im Internet vor seiner Zerstörung und Plünderung: hier.
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