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DACH DER WELT
Von Wilfried Arz | 30.04.2017
Ein schweres Erdbeben erschütterte Nepal Ende April 2015 und forderte vermutlich über 8.000 Opfer. Wochenlang beherrschte die Unberechenbarkeit geologischer Tektonik Medienberichte in aller Welt. Inzwischen ist es still geworden um Nepal und das höchste Gebirgsmassiv der Erde. Gewöhnlich liegen Asiens schneebedeckte Himalaya-Gipfel zwischen China und Indien ohnehin im Nachrichtenschatten. Dabei rumort es politisch im Himalaya seit Jahrzehnten.
Als Schnittstelle geopolitischer Interessen plagen den Himalaya gewaltsame Konflikte seit mehr als einem halben Jahrhundert. Grenzstreitigkeiten und Kriege belasten Beziehungen zwischen den Atommächten Indien, Pakistan und China. Innenpolitische Krisen setzen autokratische Eliten im Himalaya seit Jahrzehnten unter Druck. Politischer Widerstand führte in Sikkim und Nepal zum Sturz dortiger Monarchien (Sikkim 1975, Nepal 2006). Gewaltsame Unruhen erschütterten Indiens Teeanbaugebiet Darjeeling wiederholt seit 1986.
Konflikte auch im buddhistischen Himalaya-Königreich Bhutan. Forderungen der Nepali-Bewohner nach demokratischen Mitspracherechten stürzten das Land Ende der 1980er Jahre in eine innenpolitische Krise. Bhutans konservative Elite in Thimphu sah die autokratische Herrschaft des Königshauses bedroht und reagierte prompt: mit der Vertreibung von rund 120.000 Nepali aus Süd-Bhutan. Medien in West und Ost hüllten sich über Bhutans innenpolitisches Drama in Schweigen. Ein von Gewalt und Menschenrechtsverletzungen begleiteter Massenexodus passte nicht in das weltweit vermarktete Image Bhutans als friedliches Königreich im Himalaya, das zudem mit wirtschaftlichen Erfolgen glänzte.
Im Krisenbogen Himalaya präsentiert sich Bhutan tatsächlich als Besonderheit. Nur rund 760.000 Einwohner leben auf knapp 39.000 Quadratkilometern - eingezwängt zwischen zwei Nachbarn mit Milliardenbevölkerungen: China im Norden, Indien im Süden. Südasien drücken Bevölkerung und soziale Probleme: in Indien (1,2 Milliarden), Pakistan (190 Millionen), Bangladesch (160 Millionen) und Nepal (30 Millionen). Spürbare Entwicklungsfortschritte erreichten die breiten Massen dort bis heute nicht.
Ganz anders in Bhutan: dort besteht ein weitgehend intaktes Ökosystem, wird Strom aus Wasserkraft gewonnen und ins energiehungrige Nachbarland Indien exportiert, zudem herrschen in Bhutan kein Hunger und keine krasse Armut. Dafür glänzt Bhutan in Südasien mit dem (statistisch) höchsten Durchschnittseinkommen und bietet Entwicklungserfolge, die dem bevölkerungsreichen Subkontinent bislang versagt blieben.
Bhutan wird im Westen mit viel Lob überschüttet. Entwicklungsfortschritt definiert das Königreich nicht mit Statistiken des Bruttoinlandproduktes, sondern der Zufriedenheit seiner Bevölkerung. Glück als Ausdruck von Lebensqualität wird zur Messlatte für Entwicklung erhoben. Als König Jigme Singye Wangchuk 2004 nach 30 Jahren Regentschaft zugunsten seines Sohnes abdankte und ein neues Demokratiemodell lancierte, rückte er Bhutan weltweit wieder in positive Schlagzeilen. Ein durchdachter Schachzug: Bhutans Monarchie wurde als demokratiefreundlich gefeiert, der erzwungene Massenexodus aus den Medien verdrängt.
Seit dem 17. Jahrhundert diente Bhutan als Kulisse innenpolitischer Machtkämpfe zwischen dem aus Tibet zugewanderten buddhistischen Klerus und rivalisierenden Regionalfürsten (Talvögten). Erst 1751 erfolgte ein politischer Kompromiss: die Gewaltenteilung zwischen religiöser und weltlicher Macht. Fortan wurde ein spirituelles Oberhaupt per Reinkarnations-folge bestimmt, ein weltlicher Herrscher von den Fürsten gewählt. Bhutan blieb politisch instabil. Englands koloniale Handelsinteressen in Tibet erforderten jedoch berechenbare Verhältnisse und kooperationswillige Bündnispartner im Himalaya-Transitland Bhutan.
Unterstützung bot Ugyen Wangchuk, Talvogt von Trongsa in Zentral-Bhutan. Im Gegenzug lieferte England moderne Waffen, mit denen Ugyen innenpolitische Rivalen besiegte. Dessen Krönung zum ersten König des Landes (1907) beendete Bhutans Herrschaftsform der modifizierten Theokratie und führte zur politischen Entmachtung des buddhistischen Klerus. Hoffnungen der Wangchuk-Familie, den Klerus als politischen Widersacher endgültig isoliert zu haben, gingen nicht Erfüllung. Bhutans zweiter König Jigme Wangchuk (reg. 1926-1952) griff zu einer gewaltsamen Problemlösung und ließ den Shabdrung, Bhutans spirituelles Buddhisten-Oberhaupt, kurzerhand 1931 ermorden.
Bhutans Staatsgründung beruht auf dem Hintergrund religionspolitischer Konflikte in Tibet des 17. Jahrhunderts, seine Kultur auf dem tibetischen Buddhismus, seine Gesellschaft auf feudalistischen Strukturen. Buddhistische Klöster traten als Grundbesitzer in Erscheinung, Kriegsgefangene arbeiteten dort als Leibeigene und Sklaven. Erst 1958 wurden in Bhutan (Tibet 1954) Sklaverei und Leibeigenschaft abgeschafft - von König Jigme Dorje Wangchuk (reg. 1952-1972). Nicht ohne Kalkül: zur Versorgung der in Freiheit Entlassenen mit landwirtschaftlich nutzbarem Land wurde klösterlicher Grundbesitz konfisziert. Damit wurde dem buddhistischen Klerus dessen wirtschaftliche Existenzgrundlage entzogen und als unbequemer Gegenspieler der Wangchuk-Monarchie politisch entmachtet.
Während Bhutan im östlichen Himalaya in einen Dornröschenschlaf fiel, sorgten derweil Umbrüche tektonischer Dimension in Indien und China für eine neue politische Topografie. Die Teilung Britisch-Indiens in Pakistan und Indien (1947), Ceylon und Birma (1948) schaffte vier neue Staaten mit neuen politischen Strukturen und neuen Konflikten. China wurde kommunistische Volksrepublik (1949), Tibet von Chinas Volksbefreiungsarmee besetzt (1950). Mit der Flucht des Dalai Lama nach Indien (1959) endeten 300 Jahre theokratischer Herrschaft in Tibet. Auch Sikkim, Nepal und Bhutan - eingezwängt zwischen China und Indien - gerieten in den Sog der neuen geopolitischen Konfiguration im Himalaya.
Der Himalaya mutierte zu einer neuen geopolitischen Nahtstelle. China und Indien standen sich dort fortan als Rivalen gegenüber und buhlten in Himalaya-Königreichen um Einfluss. Der Grenzkonflikt zwischen China und Indien (1962) zwang Bhutan endgültig zur Aufgabe seiner selbstgewählten Isolation. Thimphu leitete einen kontrollierten Öffnungsprozess zum südlichen Nachbarn Indien ein. Doch bewirken Öffnungsprozesse auch von Konflikten begleitete gesellschaftliche Veränderungen: die Entstehung neuer Eliten und Forderungen nach politischer Mitsprache durch Modernisierungsverlierer - Entwicklungsprozesse, die jahrhundertealte Herrschaftspositionen autokratischer Eliten gefährden.
Im Kontext politischer Radikalisierungen in Sikkim, Darjeeling und Nepal wird das Motiv für den erzwungenen Massenexodus von Nepali aus Bhutan und das Demokratie-Projekt der bhutanischen Monarchie in Thimphu damit nachvollziehbar. Der kontrollierte Umbau des politischen Systems dient im Kern der machtpolitischen Konsolidierung der Monarchie. Bhutans neue Verfassung bietet zwar aktives Wahlrecht für die Bevölkerung, das passive Wahlrecht bleibt jedoch an akademische Bildung gebunden.
In Bhutans Parlament (Unterhaus) sitzen Angehörige der alten und neuen Elite. Bhutans bäuerliche Bevölkerung (90 Prozent) bleibt der Zugang zu parlamentarischen Institutionen weiterhin verwehrt. Der König verfügt über ein Vetorecht gegen Gesetze, bestimmt 20 Prozent der Oberhaus-Mitglieder und kann Regierung und Parlament auflösen. Bhutans formaldemokratischer Wahlprozess verschleiert somit die starke Stellung des Königs mit autokratischen Durchgriffskompetenzen. Zugleich fügt sich das unkritisch positive Image von Bhutan in die unkritische Euphorie westlicher Medien, das Demokratie-Projekt der Monarchie in Bhutan als Geschenk (!) des Königs an seine Untertanen zu vermitteln.
Als Tourismusdestination genießt Bhutan hochpreisige Exklusivität. Zahlungskräftige Touristen werden in klimatisierten Landcruisern mit hohem Spritverbrauch auf kurvenreichen Straßen durch Bhutans faszinierende Himalaya-Bergwelt befördert. Auch Bhutans Elite lebt privilegiert und schätzt den Komfort moderner Luxuskarossen. Wer der Königsfamilie in Thimphu durch Einheirat oder geschäftliche Verbindungen nahesteht, genießt einen Lebensstandard, von dem Bhutans Bauern nur träumen können. Zwischen 20 und 30 Prozent der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze (je nach statistischer Bemessungsgrundlage). Unübersehbar ein regionales Entwicklungsgefälle zwischen West und Ost. Als Armenhaus gilt Bhutans Osten, dort lebt fast die Hälfte der Bevölkerung des Landes.
Nicht alle Bhutaner scheinen den rasanten Modernisierungsschub ihres Landes verkraftet zu haben. Traditionelle Strukturen lösen sich auf, neue Ungleichheiten entstehen. Zu einem sozialen Brennpunkt entwickelt sich die Hauptstadt Thimphu, deren Einwohnerzahl auf 100.000 zusteuert. Kriminalität und Drogenkonsum unter arbeitslosen Jugendlichen, häusliche Gewalt gegen Frauen, zunehmende Depressionen und Suizide offenbaren sich als Begleiterscheinungen einer allzu raschen und schwer kontrollierbaren wirtschaftlichen Entwicklung. Hinter Klostermauern bleibt selbst Bhutans buddhistischer Klerus von gesellschaftlichen Veränderungen nicht verschont: unter den seit 1992 erfassten HIV-Infizierten befinden sich auch Mönche.
Bhutans Wirtschaftsmodell basiert auf der Energieproduktion aus Wasserkraft. Strom wird ins Nachbarland Indien und nach Bangladesch exportiert und trägt erheblich zur Finanzierung des Staatshaushaltes bei. Doch liegen Bhutans Staudämme in einer hochgradig erdbeben-gefährdeten Himalaya-Region. Geologen bewerten die Eintrittswahrscheinlichkeit von Erdbeben im Himalaya als latent hoch. Drei heftige Erdbeben haben den Himalaya in den letzten Jahren erschüttert: in Bhutan 2009, Sikkim 2011, Nepal 2015.
Auswirkungen auf Bhutans energiezentriertes Wirtschaftsmodell könnte auch der globale Klimawandel bewirken. Himalaya-Gletscher befinden sich bereits im Abschmelzungsprozess und gefährden den jahreszeitlich ohnehin schwankenden Wasserhaushalt von Bhutans Flüssen, die für die Stromproduktion genutzt werden. Noch ist Bhutans Stromexport ein finanziell lukratives Geschäftsmodell. Dennoch warten noch immer viele Bauern in Bhutan auf einen Stromanschluss.
Der in Bhutan entwickelte und weltweit hochgelobte Begriff des Bruttonationalglücks bleibt nebulös. Auch das bhutanische Entwicklungsmodell muss sich an seiner Leistungsbilanz messen lassen. Inzwischen drücken Bhutans jugendliche Bevölkerung Arbeitslosigkeit. Arbeitsplätze erfordern Wirtschaftswachstum. Ohne Wachstum läuft auch in Bhutan nichts.
Die politisch motivierte Glücksformel gilt vermutlich nicht für 120.000 Nepali-sprechende Süd-Bhutaner, die ins Ausland (Nepal) vertrieben wurden und inzwischen in die USA, Kanada und einige EU-Länder repatriiert worden sind. Glück als messbares (?) Kriterium von Entwicklungsfortschritt gilt wohl auch nicht für zehntausende Billig-Arbeitskräfte aus Indien und Bangladesch in Bhutans Straßenbau und Bauwirtschaft. Bhutans Bruttonationalglück stösst nicht nur im Himalaya an Grenzen.
Wilfried Arz ist Politikwissenschaftler in Bangkok/Thailand.
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