09.08.2023 13:11:56
RUSSLANDDEBATTE
Von Andreas Umland
Zur Person: Andreas Umland | |
Dr. Dr. Andreas Umland ist Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt sowie Herausgeber der Buchreihe „Soviet and Post-Soviet Politics and Society“ des ibidem-Verlags, Stuttgart. Geboren 1967 in Jena. Studium der russischen Sprache, Osteuropastudien und Politologie in Leipzig. 1998 Dr. phil. in Geschichte an der Freien Universität Berlin mit einer Arbeit zum Aufstieg Vladimir Žirinovskijs in der russischen Politik. 2007 Ph. D. in Politics der University of Cambridge (Trinity College) mit einer Arbeit zur postsowjetischen russischen „unzivilen Gesellschaft“. |
ährend Jelzins Regentschaft mit einer Revolution und der Schaffung der institutionellen Grundlagen von Demokratie zusammenfiel, trat Putin das Präsidentenamt an, als die revolutionäre Phase sich seinem Ende zuneigte und ein neues Institutionensystem bereits weitgehend installiert war. Putins historische Aufgabe wäre es gewesen, die ansatzweise geschaffenen demokratischen Grundlagen zu konsolidieren, zu korrigieren und auszuweiten. Stattdessen hat er die ohnehin nur partiell erfolgreichen Demokratisierungsbemühungen Jelzins – trotz günstiger ökonomischer Rahmenbedingungen – weitgehend revidiert. Die Putinperiode muss daher als vertane Chance in der Schaffung eines nachhaltig stabilen russischen Staates betrachtet werden.
Die Frage nach dem Platz des heutigen Russlands auf der Demokratie- bzw. Autoritarismusskala erscheint als verbraucht. In Dutzenden von Büchern und hunderten Artikeln der letzten Jahre werden unterschiedliche Ansichten hierzu vorgetragen. Die einsetzende Ermüdung bei der Diskussion dieser Problematik äußert sich darin, dass inzwischen nicht selten ihr Sinn als solcher in Frage gestellt wird. Ein sich wiederholender Topos ist hierbei, dass Russland ein besonderes Land sei, „seinen eigenen Weg“ gehen müsse und nicht erwartet werden kann, dass das russische politische System in wenigen Jahren eine Entwicklung nachholt, welche die westlichen Staaten in Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten durchlaufen haben. Manche Beiträger – insbesondere in Russland selbst – gehen so weit, den Anspruch einer besonderen „russischen“ Definition von Demokratie geltend zu machen.
Aus geschichtsphilosophischer und politikpragmatischer Sicht erscheinen diese Argumente zunächst plausibel. Es gibt international fraglos verschiedene Formen von Demokratie. Und zweifelsohne ist der Aufbau einer funktionstüchtigen Demokratie ein komplizierter und langwieriger Prozess. Der Ansatz entpuppt sich bei genauerem Hinsehen allerdings insofern als angreifbar, da er einigen kaum bestreitbaren Fakten der neuesten russischen Zeitgeschichte widerspricht. Es bleibt in derlei Argumentationsketten meist unbesprochen, dass Russland im ausgehenden 20. Jahrhundert seine „Aufholjagd“ in Sachen Liberalisierung und Demokratisierung in mancher Hinsicht bereits absolviert hatte bzw. zur Jahrhundertwende eine Reihe von Kriterien dafür erfüllte, um nicht nur in einem, wie auch immer definierten, spezifisch „russischen“ Sinne als demokratisch zu gelten.
Zum Ende der Neunziger, noch bevor Putin an die Macht kam, trat die russische Wirtschaft in eine Wachstumsperiode ein, die mit Schwankungen bis heute andauert. Darüber hinaus war zu diesem Zeitpunkt auch das politische System Russlands auf dem Weg einer Konsolidierung und hatte einige aus historischer Perspektive beachtenswerte Ergebnisse vorzuweisen. Nicht nur in der Wirtschaft hatten die chaotischen Zustände der Neunziger letztlich die Grundlage für einen nachhaltigen Wirtschaftsaufschwung unter weitgehend marktwirtschaftlichen Vorzeichen im neuen Jahrzehnt gelegt. Auch in der Politik hatten die teils anarchischen Zustände unter Präsident Boris Jelzin 1991-2000 letztendlich eine Reihe von politischen Sachlagen und Institutionen hervorgebracht, die es - zumindest aus demokratietheoretischer Sicht - wert gewesen wären erhalten zu werden. Dies galt unter anderem für
Im Ergebnis dieser Entwicklungen war eine relativ offene gesellschaftliche Atmosphäre entstanden, in welcher aus dem Westen importierte Neuerungen zwar mit wachsender Skepsis betrachtet wurden, aber die auch in Westeuropa oder Nordamerika bekannten Konflikte zwischen Staat und Individuum, Zentrum und Provinz, nationaler, regionaler und lokaler Macht, Arbeit und Kapital, Kirche und Gesellschaft sowie Parteien verschiedener Couleur tagtäglich mit eher zu- als abnehmender Offenheit ausgetragen wurden. Dies geschah Ende der 1990er zwar häufig in - aus westlicher Sicht - gewöhnungsbedürftiger Manier, war aber dennoch Ausdruck dessen, dass sich Russland zu einem polyarchischen Land mit konkurrierenden Gesellschaftsmodellen entwickelte, in dem Interessengegensätze verschiedener sozialer Gruppierungen öffentlich und bei wachsender Einbeziehung aktiver Bevölkerungsteile ausgetragen wurden.
Während Putin das Jelzinsche Erbe im Bereich der Wirtschaftsreformen zumindest teilweise übernahm, hat er die meisten der genannten politischen Errungenschaften der Neunziger im neuen Jahrzehnt liquidiert bzw. ausgehöhlt. Putins wichtigste politische Revisionen schlossen folgende Veränderungen ein:
Die diese Bezeichnung tatsächlich verdienenden Massenmedien, d.h. die von weiten Bevölkerungsteilen wahrgenommenen Rundfunkprogramme und Presseorgane, wurden mehr oder minder stark gleichgeschaltet. Lediglich solche Medien, die kein Massenpublikum erreichen – etwa das World Wide Web, kleine Zeitungen, Fachzeitschriften oder einzelne Radiosender –, agieren noch relativ frei.
Das auch unter Jelzin noch unterentwickelte Parteienwesen wurde durch eine Kombination gezielter Modifizierungen gesetzlicher Normen mit mannigfachen Manipulationen von Informations- und Finanzflüssen durch Putins „Polittechnologen“ soweit unterwandert, dass es zur weitgehenden Wiederherstellung des Einparteiensystems kam, in welchem die sog. „Machtpartei“ (partija vlasti) - „Einiges Russland“ mit Putin an der Spitze - den Gesetzgebungsprozess vollständig kontrolliert. Einige in der Staatsduma präsente Randparteien üben hierbei eine Feigenblattfunktion aus und existieren lediglich aufgrund ihrer bewussten Duldung durch die Regierung. Sie sind überdies in einigen wesentlichen Aspekten ihrer politischen Ausrichtung, etwa in Bezug auf ihre Beurteilung der Rolle einerseits Russlands und andererseits des Westens in der Weltgeschichte und heutigen -politik (Stichwort: Russland als Großmacht) kaum voneinander sowie von der Putinpartei zu unterscheiden. Das Parteinspektrum des Putinschen Russlands stellt damit eine Konstruktion dar, die in gewisser Hinsicht an die „Nationale Front“ der DDR erinnert, die Putin von seinen KGB-Jahren in Dresden vertraut ist.
Obwohl die offizielle Bezeichnung des Landes „Russische Föderation“ lautet, kann von einem tatsächlichen Föderalismus, der mit den staatlichen Strukturen etwa Deutschlands, der USA oder Schweiz vergleichbar wäre, keine Rede mehr sein. Die politische Macht über alle relevanten Fragen sowohl nationaler als auch regionaler (ja häufig lokaler) Bedeutung ist heute wieder klar in Moskau konzentriert. Lediglich die Kompetenzabgrenzung zwischen Kreml und Weißem Haus, also zwischen Präsidialadministration und Regierung, erscheint diskussionswürdig. De Facto ist Russland inzwischen wieder ein Unitarstaat, was durch die hohe Bedeutung des Putinschen Konzepts der „Machtvertikale“ (vertikal' vlasti) im russischen politischen Diskurs bestätigt wird.
Mit dem faktischen Verschwinden des Mehrparteien- und föderativen Systems verbunden ist ein rapider Bedeutungsverlust der Staatsduma und des Föderationsrates, der beiden Kammern der Föderativen Versammlung, des gesetzgebenden Organs der RF. Die Rolle dieser Institutionen im politischen Prozess erinnert inzwischen wieder an die „Stempelkissenfunktion“ des Obersten Sowjets in der UdSSR.
Diejenigen russischen „patriotisch“ eingestellten Beobachter sowie einige westliche, sich als „Russlandkenner“ verstehende Autoren, die die Realität des Putinschen politischen Illiberalismus und der Sinnentleerung von die Exekutivmacht balancierenden Institutionen anerkennen, verweisen stellenweise darauf, dass auch die Jelzinära keine tatsächlich demokratische Periode der russischen Geschichte darstellte. Dem ist zuzustimmen. Jelzin trug zwar viel zur sowohl wirtschaftlichen als auch politischen Liberalisierung Russlands bei (wobei selbst hierbei angemerkt werden muss, dass er in vieler Hinsicht lediglich bereits unter Gorbatschow errungene Freiheiten unangetastet ließ). Aber Jelzin war letztlich eher ein populistischer Autokrat denn konsequenter Demokrat - was angesichts seiner politischen Biographie im Apparat der KPdSU wenig verwundert. Obwohl es in Teilen des russischen politischen Lebens der Neunziger – etwa in den Parlamenten sowie Medien, im Parteien- sowie Hochschulwesen – pluralistisch zuging, wurde in einigen entscheidenden Momenten der jungen postsowjetischen Geschichte der gesamtrussische politische Willensbildungs- und Entscheidungsprozess auch unter Jelzin unterdrückt beziehungsweise gesteuert. Die bekanntesten Beispiele hierfür sind die gewaltsame Parlamentsauflösung 1993, die administrative Beeinflussung des Wahlkampfes bei den Präsidentschaftswahlen 1996 sowie die Inthronisierung Putins 1999-2000.
Diese und andere Episoden illustrierten, dass Jelzin in Fragen des Schutzes seiner persönlichen Position und Reputation sowie seiner sog. „Familie“ (die auch Freunde und andere Weggefährten umfasste) nicht gewillt war, sich vollständig politischer Konkurrenz und öffentlicher Kontrolle zu stellen. Darüber hinaus herrschten in den Neunzigern in vielen russischen Regionen, vor allem in den Autonomen Republiken der nationalen Minderheiten der Föderation, aber auch in einer Reihe russischer Oblasten, in den neunziger Jahren politische Zustände, die weniger an Demokratie als an Feudalismus erinnerten.
Vor diesem Hintergrund – so ein heute in Russland gängiges und auch unter einige westlichen Russlandspezialisten populäres Argument – sei es illegitim, die offenkundigen Demokratiedefizite unter Putin zu thematisieren. Russland sei zwar heute keine wirkliche Demokratie, war es jedoch auch noch nie – so der scheinbar dahinter steckende Gedanke. Bei dieser Form der Apologetik der Putinschen Rezentralisierung bleibt allerdings nicht nur häufig unreflektiert, dass das Niveau des politischen Pluralismus Russlands unter Jelzin trotz der genannten Unzulänglichkeiten im Verhalten des ersten russischen Präsidenten signifikant höher war als heutzutage.
Ein noch größeres Manko des pauschalen Vergleichens des Jelzinschen und Putinschen Russlands ist, dass hier zwei in ihrer historischen Bedeutung verschiedene Entwicklungsabschnitte des russischen politischen und Gesellschaftssystems gleichbehandelt werden. Es werden insofern zwei letztlich grundverschiedene Situationen miteinander gleichgesetzt, als Jelzins Herrschaft mit der revolutionären und daher naturgemäß chaotischen Periode im jüngsten russischen Transformationsprozess zusammenfiel.
Demgegenüber kam Putin an die Macht, als sich das aus dieser Revolution herauskristallisierende neue System politischer und ökonomischer Wechselbeziehungen bereits zu konsolidieren begann und zudem im Weiteren von einem rasanten Anstieg der internationalen Energiepreise profitierte.
Die auch unter Jelzin zweifelsohne vorhandenen Demokratiedefizite im russischen politischen Prozess konnte man noch als „Kinderkrankheiten“ des sich schrittweise herausbildenden polyarchischen Regierungssystems Russlands auffassen sowie mit bestimmten Errungenschaften Jelzins bezüglich der Liberalisierung und Institutionalisierung des neuen politischen Systems Russlands quasi „verrechnen“. Für die Demokratiedefizite in Putins Amtszeit lassen sich derartige Abstriche nur bedingt machen. Zwar sind viele russische und einige westliche Beobachter der Meinung, dass die Putinsche Rezentralisierung staatlicher Macht der notwendig zu zahlende Preis für die Stabilisierung des Landes war. Dem widerspricht jedoch die bereits nach dem Rubelkollaps vom August 1998 und der Ernennung Evgenij Primakovs zum Premierminister einsetzende Konsolidierung sowohl des wirtschaftlichen als auch politischen Systems. D.h. die meist als Leistung Putins betrachtete Stabilisierung Russland setzte paradoxerweise noch vor Putins vollständiger Übernahme der Regierungsgeschäfte als zunächst amtierender Präsident am 1. Januar 2000 ein.
Die Staatsstruktur und gesellschaftlichen Zustände, die Jelzin zu Beginn des neuen Jahrhunderts Putin hinterließ, waren freilich keineswegs ideal. Jedoch war die noch Anfang der Neunziger akut scheinende Gefahr eines möglichen Zerfalls des Landes oder gar Bürgerkrieges inzwischen gebannt. Jelzin übernahm 1991 eine staatliche Institutionenstruktur, die höchst fragil, wenn nicht bereits tot geboren war und deren schließlicher Kollaps 1993 etliche Todesopfer forderte. Im Unterschied dazu erbte Putin zum Ausgang des Jahrhunderts von Jelzin ein Staatsgefüge, das keineswegs ausgereift, aber in wesentlichen Aspekten funktionstüchtig war und formal betrachtet bis heute weiterbesteht. Zudem hatte die russische Wirtschaft 1999 ihre Talsohle durchschritten und hätte sich im Weiteren auch ohne die Putinsche „Machtvertikale“ ähnlich bzw. nach Meinung einiger Beobachter sogar noch erfolgreicher als unter Putin entwickelt.
Ein unzureichend kontextualisierter Vergleich der Jelzinschen und Putinschen Amtsperioden hinkt somit in mindestens zweierlei Hinsicht. Putin profitierte nicht nur von der ohnehin anziehenden Konjunktur der inzwischen mehr oder minder marktwirtschaftlich funktionierenden russischen Ökonomie, die als solche bereits unter Jelzin geschaffen worden war. Die unmittelbar nach dem Ende der UdSSR notwendigen grundlegenden Reformen des immer noch sowjetisch geprägten politischen und gesellschaftlichen Systems waren bei Putins Machtantritt bereits zum großen Teil erfolgt, wenn auch noch nicht vollständig abgeschlossen und mit vielen Fehlern behaftet. Zwar übernahm auch Putin bei seinem Machtantritt eine ganze Anzahl an „Baustellen“ – nicht zuletzt den ungelösten Konflikt mit den tschetschenischen Separatisten. Der russische Problem- und Reformstau zum Ende der Neunziger ist jedoch kaum mit den enormen Herausforderungen gleichzustellen, mit denen sich Jelzin bei seiner Amtsübernahme 1991 konfrontiert sah. Während der erste russische Präsident nach dem gescheiterten Putsch vom August 1991 in vielerlei Hinsicht bei Null anzufangen hatte, fand Putin knapp zehn Jahre später eine zwar mehr schlecht als recht funktionierende, aber in ihren Grundfesten bereits existente Regierungs- und Wirtschaftsstruktur vor, welche zu stabilisieren, konsolidieren und korrigieren seine historische Aufgabe war.
Zu Beginn von Putins Machtantritt hatte es noch den Anschein, dass sich der neue russische Präsident dieser geschichtlichen Rolle bewusst war. In den darauf folgenden Jahren machten seine Reaktionen auf innere und äußere Herausforderungen an Russland – etwa seine Interpretation der Orange Revolution in der Ukraine sowie seine Lehren aus der Geiselnahme in Beslan – allerdings deutlich, dass Putins politische Grundintentionen sich von denen Gorbatschows und Jelzins prinzipiell unterscheiden.
Während Gorbatschows Perestroika und die Jelzinschen Reformen darauf hinausliefen, es der Bevölkerung zu ermöglichen, stärker am politischen Leben teilzunehmen und staatliches Handeln zu beeinflussen, betrieb Putin eine neuerliche Abkapselung des Staates von der Gesellschaft - wenn auch unter anderen Vorzeichen und mit anderen Mitteln, als dies in der Sowjetunion der Fall gewesen war.
Die Sowjetmacht hatte regierungsfeindliche Tätigkeit auf relativ primitive Weise unterdrückt bzw. unterbunden. Dagegen werden im Putinschen Russland die Effekte derartiger Tätigkeit durch eine subtile Einschränkung des gesellschaftlichen Aktionsradiuses und geschickte Schürung der inneren Gegensätze der politischen Opposition, unabhängigen Journalistengemeinde und kritisch eingestellten Nichtregierungsorganisationen neutralisiert – eine Methode die mit dem russischen Neologismus „Polittechnologie“ bezeichnet ist. Dabei schwanken die öffentlichen Legitimationsstrategien für dieses Vorgehen zwischen offener Anknüpfung an die autokratischen Traditionen in der politischen Kultur Russlands einerseits (Stichwort: Byzanz) und einem hartnäckigen Beharren auf dem Recht der Russen, ihre eigene, „russische“ Form von Demokratie, die eben anders funktioniere als die „westliche“, zu verwirklichen andererseits.
Der schillerndste Ausdruck letzterer Bestrebungen ist das von dem Putingehilfen und Präsidialamtsangestellten Vladislav Surkov eingeführte Konzept der „Souveränen Demokratie“, welches einen angeblich notwendigen Schutz des politischen Systems Russlands vor negativen Einflüssen aus dem Ausland durch Beschränkung des innerrussischen politischen Wettbewerbs impliziert. Der Terminus erinnert damit eher an die Funktion solcher Konstrukte wie „sowjetische Demokratie“ oder „Volksdemokratie“ im früheren Ostblock, als dass er eine Bezeichnung für eine besondere, russische Form von Polyarchie darstellt.
Obwohl sich somit Jelzins und Putins Russland darin gleichen, dass in keiner dieser beiden Perioden der Entwicklung des russischen Staates von einem voll ausgebildeten politischen Pluralismus und ausbalancierten demokratischen Institutionengefüge die Rede sein konnte, unterscheiden sich beide politische Systeme aufgrund ihrer verschiedenen Orte in der russischen Geschichte und unterschiedlichen Zukunftsvisionen. Das Jelzinsche Russland war durch seinen revolutionären Charakter, seine multiple, d. h. sowohl politische als auch ökonomische, staatliche und kulturelle Transformation sowie mehr oder minder prowestliche Ausrichtung geprägt. Es könnte daher als eine „Proto-“ oder „Semidemokratie“ bezeichnet werden. Das Putinsche Russland hingegen trug einen restaurativen Charakter und war von einer zunehmend antiwestlichen Orientierung bestimmt. Es könnte daher als „Para-“ oder gar „Pseudodemokratie“ klassifiziert werden.
Während Jelzins politisches System aus demokratietheoretischer Sicht als unterentwickelt angesehen werden muss, erscheint Putins Politik vor dem Hintergrund der politischen Fortschritte anderer europäischer Mitglieder des ehemaligen Sowjetblocks – nicht zuletzt der historisch eng verbundenen Ukraine – als fehlgeleitet, ja anachronistisch. Dies wiegt um so schwerer als Putin sich – im Gegensatz sowohl zu seinem Vorgänger Jelzin als auch zu seinem ukrainischen Kollegen Juschtschenko – auf enorme finanzielle Mittel stützen konnte, welche durch den spektakulären Anstieg der Weltmarktpreise für Energieträger in die Staatskassen gespült wurden.
Während Jelzin in Zeiten tiefer niedriger Erdöl- sowie Erdgaspreise, gesellschaftlicher Umbrüche und schmerzhafter ökonomischer Reformen die bereits unter Gorbatschow gemachten Errungenschaften in punkto Liberalisierung und Demokratisierung weitgehend erhielt oder ausweitete, revidierte Putin in Zeiten relativer sozialer Stabilität und rasanten wirtschaftlichen Wachstums viele dieser Ergebnisse.
Es stellt sich vor dem Hintergrund der teilweisen Wiederherstellung sowjetischer Zustände im heutigen Russland, wie des Einparteienstaates, staatlichen Einflusses in der Wirtschaft und Gesellschaft oder der Ost-West-Konfrontation, sogar die Frage, weshalb die Russen überhaupt den schmerzhaften Transformationsprozess eingeleitet und durchstanden haben. Wenn nun doch vieles wieder in alte Bahnen gerät, erscheinen die Entbehrungen der späten Achtziger und Qualen der Neunziger in gewisser Hinsicht sinnlos gewesen zu sein.
Ein pauschales Vergleichen von Fortschritten und Ergebnissen in Sachen Demokratisierung während der Jelzinschen und Putinschen Geschichtsperiode führt in die Irre. Das Jelzinsche Russland war noch keine konsolidierte Demokratie. Solches hätte angesichts der Novität der postsowjetischen politischen Institutionen und der Zahl sowie Maßstäbe der Herausforderungen an den gerade entstandenen russischen Staat einem Wunder geglichen.
Das nachjelzinsche Russland hingegen hatte bereits wichtige Transformationsschritte vollzogen und somit eine Chance, sich zu einer konsolidierten Demokratie zu entwickeln. Zumindest die verfassungsrechtlichen Grundlagen waren hierfür geschaffen und die ökonomischen Bedingungen günstig. Putin hat diese historische Chance vertan und ohne Not wesentliche demokratische Errungenschaften der Neunziger, ja einige Ergebnisse der spätsowjetischen Perestrojka der späten Achtziger wieder rückgängig gemacht. Bereits heute kann daher vermutet werden, dass künftige Historiker – im Gegensatz zu derzeit in Russland und teilweise auch im Westen populären Allgemeinplätzen – einmal die Rolle Jelzins positiver und den Beitrag Putins kritischer einschätzen werden, als dies bislang meist der Fall war. Womöglich wird einst sogar Jelzins Ernennung Putins zu seinem Nachfolger als dessen wichtigster historischer Fehler bewertet werden.
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Dieser Text wurde erstmals im Rahmen eines Vortrages am 24.10.2008 auf der Tagung „Russland – Weltmacht zwischen Mythos und Wirklichkeiten“ an der Katholischen Akademie Bayern, München, vorgestellt.
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