09.08.2023 13:11:56
BERLIN-KRIM-BERLIN
Von Juliane Inozemtsev
Ukrainische Grivna Foto: Inozemtsev |
Teil 1
Adler oder Falke - Russland oder Ukraine?
nser Sohn Kirill, bald fünf, hat von seinem „djeduschka“ (dem russischen Opa) in Sewastopol ein neues Spiel gelernt. Es heißt „orjol ili reschka“ (wörtlich übersetzt: „Adler oder Nüsschen“) und ist die russische Variante des bekannten Münzspiels „Kopf oder Zahl“. Djeduschka Igor hat ihm dafür extra eine silbern glänzende, russische Ein-Rubel-Münze geschenkt. Vorn ist ein Nussbaum-Zweiglein und hinten der doppelköpfige, nach Osten und Westen blickende russische Adler abgebildet.
Doch wie Kinder so sind, nach ein paar Tagen ging die Münze leider verloren. Da lief unser Sohn zu seiner „babuschka“ (der russischen Oma) und bat, sie möge ihm eine neue Münze geben. Das tat sie auch gern. Jedoch gab sie ihm aus ihrem Portemonnaie keinen Rubel, sondern eine ukrainische Grivna (auch Hrywnja). Natürlich, denn in Sewastopol bezahlt man schon seit der Währungsreform von 1996 nicht mehr mit Rubel, sondern mit Grivna - schließlich gehört die Stadt, genau wie die ganze Halbinsel Krim, offiziell zur Ukraine.
Russischer Rubel Foto: Inozemtsev |
Geografisch betrachtet ist die Lage eindeutig. Aus historischen Gründen hat Sewastopol jedoch einen politischen Sonderstatus. Schon seit dem 18. Jahrhundert ist die Stadt ein wichtiger strategischer Stützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte, und als solcher ist sie noch bis zum Jahr 2042 an Russland verpachtet. Auf den Straßen sprechen die Leute fast ausschließlich Russisch, und viele Einheimische fühlen sich eher Russland, als der Ukraine zugehörig. Allerdings hört man die Menschen noch öfter sagen: „Wir sind beides: Russen und Ukrainer. Früher in der Sowjetunion gehörten wir ja sowieso alle zum gleichen Land.“ Fragt man genauer nach, erfährt man, dass die meisten Familien in beiden Ländern verwurzelt sind, weshalb sich die Frage, ob jemand nun Russe oder Ukrainer ist, gar nicht eindeutig beantworten lässt. Das eine schließt das andere ja nicht immer aus.
Mein Mann Wanja zum Beispiel wurde in der Sowjetunion geboren, in der Nähe von Donezk, also in der ukrainischen Sowjetrepubklik. In seiner Geburtsurkunde wurde noch unterschieden zwischen „graschdanstwo“ – „Staatsangehörigkeit“ und „national'nost'“ – „Nationalität“. Er war also als Kind Bürger der Sowjetunion, wohnhaft in der Ukraine, aber mit russischer Nationalität, weil seine Großeltern mütterlicher- und väterlicherseits sowie sein Vater aus Russland stammen: ihre Heimat waren die Gegenden um Kursk, Brjansk und Rjasan. Beide Großelternpaare zogen Ende der fünfziger Jahre/ Anfang der sechziger Jahre, unabhängig voneinander, in die östliche Ukraine, um dort Arbeit in den Bergwerken zu finden. Die Mutter meines Mannes wurde dann dort geboren - ebenso wie er selbst Jahre später.
Als die Ukraine 1991 unabhängig wurde, stellte es die ukrainische Regierung den Menschen russischer Herkunft frei, ob sie fortan ukrainische oder russische Staatsbürgerschaft haben wollten. Die Eltern meines Mannes entschieden sich für die ukrainische Staatsbürgerschaft, hauptsächlich weil sie befürchteten, ein russischer Pass könnte in der Ukraine von Nachteil sein. „Wir hatten die Sorge, dann Ausländer im eigenen Land zu sein“, erinnert sich meine Schwiegermutter. „Wer weiß, ob unsere Söhne dann einen kostenlosen Studienplatz an der Universität bekommen hätten. Wer weiß, ob die medizinische Versorgung im Krankenhaus weiterhin kostenlos gewesen wäre, und wer weiß, ob wir Grund und Boden hätten kaufen und besitzen dürfen. Das war uns alles zu unsicher.“ In der Schulklasse meines Mannes hatten damals beinahe über Nacht etwa die Hälfte der Kinder die russische Staatsbürgerschaft und die andere Hälfte die ukrainische, je nachdem, was die Eltern zu dieser Zeit für klüger hielten.
Nach der Schulzeit gingen die meisten jungen Männer dann zur Armee - in Sewastopol hieß das in der Regel entweder zur russischen oder zur ukrainischen Schwarzmeeflotte. Deren Kriegsschiffe lagen bis vor wenigen Jahren in einer Bucht unmittelbar nebeneinander. Bei ihrem Anblick fragte ich mich oft: Hätten die Soldaten im Ernstfall tatsächlich die Waffen erhoben und auf ihre Freunde aus Kindertagen oder auf ihre Nachbarn geschossen? Mein Mann sagt, zu seiner Zeit wahrscheinlich nicht. Er ist jetzt 33 Jahre alt. Doch vor kurzem sprachen wir mit zwei ganz jungen Soldaten, beide kaum 20 Jahre alt. Sie haben selbst nicht miterlebt, wie zufällig die Staatsbürgerschaften einst zustande kamen, und einer von beiden sagte zu uns: "Befehl ist Befehl. Ich würde schießen." Der andere pflichtete ihm bei.
Deutsch-russische Familie – Juliane Inozemtsev mit Mann und Kindern. Foto: Inozemtsev |
Unser kleiner Sohn macht sich über derlei Dinge glücklicherweise noch keine Gedanken. Die ukrainische Münze von „babuschka“ besah er sich mit kindlicher Neugier: Vorn sind auch wieder Zweige abgebildet: sie sehen wie Weinreben aus, und hinten zeigt die Münze das verschlungene ukrainische Staatswappen, den goldenen Dreizack. Schulkinder in der Ukraine lernen, dass man darin das Wort „volja“ – „Freiheit“ lesen kann. Betrachtet man dieses Symbol, so wie unser Sohn, mit etwas Fantasie, kann man darin aber auch wieder einen Vogel erkennen: mit zwei Flügeln, die spitz nach oben zeigen. Auch einige Historiker sehen das so, und deuten ihn als Falken.
Für unseren Sohn spielt es keine Rolle, ob auf der Münze nun ein Adler aus Russland oder ein Falke aus der Ukraine abgebildet ist. Er fragt beim Spiel auch weiterhin ganz arglos: „Nüsschen oder Adler?“ - Doch fragt man ihn nach „babuschka“ und „djeduschka“, dann weiß er schon: „Sie sprechen Russisch, und wohnen auf der Krim - das ist in der Ukraine.“
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