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ANALYSE
Von Roland Chr. Hoffmann-Plesch und Anna-Maria Hoffmann-Plesch | 07.09.2021
Diese mehrteilige Arbeit war vor der Coronakrise als (meta-)politische Analyse der Ergebnisse und Folgen der Europawahl 2019 gedacht. Aus gegeben Anlass wurde im (ursprünglich nicht geplanten) Teil II.2.1. (https://www.eurasischesmagazin.de/artikel/Metapolitik-und-Machtkampf-waehrend-des-Corona-Ausnahmezustands/20170251) gezeigt, dass der metapolitische Machtkampf auch während des Corona-Ausnahmezustands unvermindert weiter geht – ein Kampf, der die unüberbrückbaren (meta-)politischen Gegensätze zwischen der freiheitlich-konservativen Opposition und dem linksliberal-globalistischen Establishment in Europa verschärft und die westliche Welt endgültig entzweit hat.
Im Teil II.2.2. wird die freiheitlich-konservative Metapolitik analysiert, wobei aus Platzgründen nur religiös-theologische (II.2.2.1.) und anthropologische, soziologische bzw. ethisch-moralische (II.2.2.2) Aspekte untersucht werden. Diese spielen in der heutigen meta- und machtpolitischen Auseinandersetzung auf europäischer Ebene eine wichtige Rolle. (Die hier dargestellten Gedanken und Erkenntnisse haben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Sie dienen nur zur intellektuellen Orientierung in einer ungeistig gewordenen Gesellschaft und in der irrationalen Gedankenwelt mancher ideologieverblendeten Zeitgenossen.)
Bei der Europawahl 2019, einige Monate vor dem Beginn der Coronakrise, hat das linksliberal-globalistische Lager eine empfindliche Niederlage erlitten (https://www.eurasischesmagazin.de/artikel/Europa-zwischen-freiheitlich-konservativem-Widerstand-und-linksliberal-globalistischem-Establishment/20170236). Die Sieger waren die in dieser Studie als freiheitlich-konservativ bezeichneten Kräfte Europas, die (für sie immer europafeindlicher gewordene) Politik des linksliberal-globalistisch orientierten EU-Establishments und seiner in den Führungsebenen der EU-Staaten tätigen Gefolgschaft entschieden ablehnen. Es war nicht nur ein politischer, sondern auch ein metapolitischer Sieg, es war die Stunde der in den Kreisen der Etablierten kaum beachteten freiheitlich-konservativen Metapolitik, die ohnehin nicht mehr ins längst überholte Links-Rechts-Schema passte. Heute, zwei Jahre und ein globaler (Corona-)Ausnahmezustand später, hat sich der Konflikt zwischen diesen Lagern nicht nur in der EU, sondern in der ganzen westlichen Welt – auch coronabedingt – verschärft, so dass eine Versöhnung nicht mehr möglich ist.
Anders als ihre Gegner sind die freiheitlich-konservativen Menschen der Auffassung,
Demnach wird es zeit-, raum- und kulturübergreifend immer Menschen geben, die sich um die Verteidigung und die Bewahrung oder je nachdem um die Wiedererlangung und die Wiederherstellung eines existenznotwendigen Freiheits- und Ordnungszustands bemühen, sei es mit friedlichen oder mit gewaltsamen Mitteln (wie die Geschichte Europas reichlich bezeugt). Da die Freiheits- und Ordnungsvorstellung der freiheitlich-konservativen Europäer (neben vorchristlichen Einflüssen) hauptsächlich auf der christlichen Lehre basiert, während die linksliberal-globalistische Ideologie und die auf ihr beruhende Weltordnungsutopie schon in ihren Anfängen im 18. Jh. als Gegenentwurf zum Christentum und zum christlichen Freiheits- und Ordnungsmodell gedacht wurde, werden im Folgenden einige religiös-theologische, metapolitisch relevante Erkenntnisse dargestellt. Diese könnten zwar für den theologisch nichtgeschulten Leser als zu abstrakt erscheinen und für den historisch nichtbewanderten Leser im heutigen säkularen und geistfeindlichen gesellschaftlich-politischen Kontext irrelevant sein. Man darf aber eines nicht vergessen: Das Christentum hat in der Geschichte Europas eine entscheidende Rolle gespielt, denn Europa ist ein Produkt des fruchtbaren Aufeinandertreffens von Indoeuropäertum und Christentum.
Die poströmische Kultur und Einheit Europas und das Frühmittelalter begannen nicht erst um 500 n. Chr., auch nicht später mit der Inthronisation Karls des Großen (800 n. Chr.), sondern entgegen der Meinung mancher Autoren bereits unter der spätrömischen Alleinherrschaft Konstantins I. des Großen (324-337) mit dem Konzil von Nicäa im Jahr 325 (dem bis 787 sechs weitere Kirchenversammlungen folgten) und vor allem mit dem Beginn der germanischen Völkerwanderung und der Christianisierung der Germanen, Daker und römischen Kolonisten, die in Gotien (im karpatisch-danubisch-pontischen Raum) im 3-4 Jh. lebten. Zu Konzilien kamen Dank der gut funktionierenden Verwaltung bzw. dem fortschrittlichen Kontakt- und Kommunikationssystem geistige Führer aus allen Ecken des Kontinents.
Abgesehen von diesen zivilisatorischen frühmittelalterlichen Umständen spielten in dieser Umbruchszeit weniger die politisch-militärischen Argumente und mehr die religiös-theologischen Ideen die entscheidende Rolle für die Zukunft Europas. Die zunächst auf der philosophischen Ebene wahrgenommenen Auswirkungen dieser Konzile haben die geistig-geistliche und gesellschaftlich-politische Ordnung Europas ab dem Frühmittelalter maßgeblich beeinflusst und gestaltet und nach der Säkularisierung (ab dem 18. Jh.) auch die profanen, polit-, ersatz- und sogar antireligiösen Wert- und Politiksysteme inspiriert (z.B. das sozialistisch-kommunistische System mit seiner pseudomessianisch-eschatologischen Idee eines irdischen Paradieses, eines neuen Menschen und eines diesseitigen Reiches der Gleichheit).
Diese historischen Tatsachen berechtigen uns zu der Behauptung, dass in Nicäa im Jahre 325 n. Chr. eine neue, vereinigende, paneuropäische Kultur geboren war, die zur Entstehung einer paneuropäischen Identität und zur Vervollkommnung der großen europäischen Zivilisation geführt hat. Die christlichen Wurzeln Europas sind also unverkennbar, denn die europäische Identität wurde auf der Grundlage des vom Christentum gebildeten „spirituellen, geistigen und ideologischen Nährboden[s]“ gestaltet, d.h.: „Ohne die Christenheit hätte es kein Europa gegeben.“ (Bruguès, 2008, S. 21).
Das Christentum spielt in den heutigen weltanschaulich-ideologischen und politischen Auseinandersetzungen eine wichtige Rolle, auch wenn manche westlichen Länder gerade eine große Welle von Kirchenaustritten erleben. Schließlich beruht ein großer Teil des metapolitischen Arsenals auf dem Christentum – sowohl in seiner sakralen, unverfälscht-apostolischen oder säkularen, kulturchristlichen Form (im freiheitlich-konservativen Lager) als auch in einer verfälschten, entsakralisierten, hypermoralisiert-ideologisierten und fast bis zur Unkennbarkeit entstellten Form (im linksliberal-globalistischen Lager). Das gilt aber nicht nur für den metapolitischen, sondern auch für den rein politischen Bereich, denn: „Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe. Nicht nur ihrer historischen Entwicklung nach, weil sie aus der Theologie auf die Staatslehre übertragen wurden, sondern auch in ihrer systematischen Struktur, deren Erkenntnis notwendig ist für eine soziologische Betrachtung dieser Begriffe.“ (Schmitt, 1996, S. 43)
Zur Überraschung vieler linksliberal-globalistischen Experten ist das Christentum in Westeuropa wieder ein Thema. Christlich bzw. freiheitlich-konservativ orientierte oder gar unpolitische Teile der westlichen Bevölkerung sind während der letzten drei globalen Krisen – Weltfinanzkrise ab 2007, Migrationskrise ab 2015 und Coronakrise ab 2019 – von stillen, (meta-)politisch passiven Beobachtern zu unüberhörbaren (meta-)politisch aktiven Verfechtern einer „(Meta-)Politik für das christliche Abendland“ geworden. Sie sind im heutigen Europa kein neues Phänomen, denn christlich denkt und handelt auch die überwiegende Mehrheit der 300 Millionen Mittel- und Osteuropäer in den EU- und Nicht-EU-Ländern. Diese waren (historisch, religiös und geopolitisch bedingt) schon immer freiheitsliebend, traditionalistisch und natio-ethno-kulturell verbunden. Auch die gleichmacherischen traditions-, christen-, völker- und nationenfeindlichen Diktaturen des 20. Jh. konnten ihre Einstellung nicht ändern. Das erklärt unter volkspsychologischem Aspekt, warum sie sich nach dem Sieg über den kommunistischen Totalitarismus (1989) innen- und außenpolitisch anders verhalten haben als ihre westlichen Brüder: bezüglich natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit selbstbewusster und stolzer, bezüglich jeglicher Form von nivellierendem Inter-, Supra- und Transnationalismus vorausschauender und kritischer. Aus diesen Gründen lehnen sie heute auch die aggressiv propagierten freiheits- und ordnungszersetzenden „Globallösungen“ linksliberal-globalistischer Eliten ab. In diesem Sinne darf die christliche Komponente der Metapolitik aus keiner Analyse der beiden großen (meta-)politischen Lager in der EU fehlen. Es geht hier um das authentische, in seinem Wesen freiheitlich-konservative Christentum der ungeteilten, apostolischen Kirche, das von Mittel- und Osteuropäern schon immer praktiziert wurde und von Westeuropäern krisenbedingt gerade wiederentdeckt wird. Dieses Christentum, das von linksliberal-globalistischen Kreisen als „Rechtschristentum“ bezeichnet und zum Feind erklärt wurde, spielt in der freiheitlich-konservativen Metapolitik eine wichtige Rolle. Die Gründe sind nicht schwer zu erraten:
Da sich der christliche Glaube im Westeuropa in einem Spanungsfeld von Nationalidentität/Tradition, Säkularismus/Humanitätsgedanken und Populismus befindet (Dirsch u.a., 2018 u. 2019), herrscht heute große Verwirrung in Bezug auf das Verhältnis zwischen Christentum, Kirche und Volk/Nation – die Folge einer komplexen, nicht ganz spontanen Entwicklung, die in den letzten zwei Jahrhunderten das Fundament der alten geistig-geistlichen und gesellschaftlich-politischen Ordnung Europas zerstört hat, um Platz für eine „neue, fortschrittliche Ordnung“ zu machen.
Diese „Neue Weltordnung“ wird gerade heute, inmitten einer Weltkrise, durch einen großen Umbruch oder großen Neustart – „The Great Reset“ (Schwab u.a., 2020) – auf europäischer bzw. globaler Ebene errichtet. In diesem Kontext ist die Religion – in Europa das Christentum – ein Hindernis für die Errichtung dieser egalitären Weltordnung. Metapolitisch relevante Bestandteile des Christentums – Tradition, Dogmen, Theologie, Kirche und (Kirchen-)Volk –, die bis heute zu den stützenden Säulen der europäischen Welt zählen und im Mittel- und Osteuropa immer noch eine wichtige Rolle spielen, werden gleichzeitig von außen und von innen bekämpft.
Aus der Sicht der ungeteilten Kirche Christi muss die göttliche Unendlichkeit, die den Menschen innerhalb der Heilgeschichte offenbart wurde, immer wieder gedeutet werden, denn es gibt ein ständiges Fortschreiten zu immer neuen Erfahrungen. Der Inhalt der Hl. Schrift muss einerseits gehütet werden und andererseits bedarf er der geistigen Vertiefung im Sinne seines unverfälschten, apostolischen Verständnisses. Wie die Christen glauben, geschieht dies unter der Leitung des Hl. Geistes, der das rechte Verständnis innerhalb der Kirche von Generation zu Generation schenkt und das geistliche Leben leitet. Da der Hl. Geist nicht neue Dinge, sondern alle Dinge neu macht (Offb 21, 5), bleibt die apostolische Auslegung im Wesen die gleiche, sie trägt aber ein dynamisches Prinzip in sich. Die Tradition, d.h. die Hl. Überlieferung ist eine „geistige Genealogie“ (https://www.deutschlandfunk.de/deutsch-orthodoxes-kloster-das-weltliche-leben-als-geistige.886.de.html?dram:article_id=466653) und somit der ununterbrochene Dialog der Kirche und des Kirchenvolks mit Christus. Sie aktualisiert die innere Dynamik der Bibel, in der die gesamte in Christus verwirklichte Offenbarung bewahrt wird, ohne sie zu entstellen. Sie hat also einen doppelten Sinn: sie ist sowohl das Werk der Heiligung und Verkündigung als auch die Weitergabe dieses Werkes unverfälscht und unverkürzt von Generation zu Generation „bis ans Ende der Zeit“ – eine Aufgabe der kirchlichen Hierarchie, des Mönchtums und des ganzen christlichen Volkes (v. Buchhagen, 2021). Ein Traditionsbruch würde also die Verbindung der aufeinander folgenden christlichen Geschlechter mit Christus durch die heiligen Sakramente und die anderen heiligen Handlungen zerstören und den Prozess der Schöpfungsheiligung/-heilung unterbrechen.
Die Kirche beginnt also mit der Tradition und die Tradition beginnt mit der Kirche (Staniloae, 1985, S. 62-68). Ein staatlich oder bischöflich verordnetes Verbot des Kirchenbesuchs und somit auch ein Messverbot (wie in der Coronakrise) oder gar die Zerstörung der Kirche und die Abschaffung des Christentums (wie in realexistierenden kommunistischen und islamistischen Diktaturen oder in den noch nicht verwirklichten Plänen gegenwärtiger Weltordnungsutopisten) würden für lokale Gemeinschaften wie für ganze Völker, Nationen und Kulturkreise die Zerstörung des gemeinschaftlichen Werkes der Heiligung und Verkündigung und die Unterbrechung der geistigen Genealogie bedeuten. Konkret:
Entzug der Hl. Messe, der Hl. Kommunion und der anderen Sakramente und heiligen Handlungen
Missachtung der Sonntagspflicht, d.h. des Feierns des österlichen Geheimnisses (Eucharistie) am Sonntag als der in der ganzen Kirche aus apostolischer Tradition gebotene ursprüngliche Feiertag (Can. 1246f. CIC, https://www.vatican.va/archive/cod-iuris-canonici/deu/documents/cic_libro4_cann1246-1248_ge.html), und Missachtung der Anweisung Jesu Christi: „Tut dies zu meinem Gedächtnis!“ (1. Kor 11, 24)
Verschleierung und Verfälschung der christlichen, biblischen Botschaft durch Verhinderung ihrer Bewahrung, ihrer geistigen Vertiefung im unverfälschten apostolischen Sinne und ihrer transgenerationalen Weitergabe
Unterbrechung oder gar Abschaffung der christlichen Tradition auf lokaler, nationaler und europäischer Ebene und das Ende der christlich-europäischen Einheit in Vielfalt
Zerstörung des im Christentum entstandenen sozialen und moralischen Grundgerüstes und der traditionellen, historisch gewachsenen Institutionen der europäischen Welt
Zersetzung der Gemeinschaft nicht nur durch soziale, körperliche Distanzierung („social Distancing“), sondern auch durch geistig-seelische Distanzierung
Auslöschung der jahrtausendalten christlich-abendländischen Zivilisation und eines großen Teils des kulturellen Erbes Europas
Rückzug oder besser gesagt Rückkehr einzelner Christen und Christengemeinschaften (um eine Lebensweise in Nachfolge Christi willen) in Katakomben, Wälder und Berge, wie zur Zeit der Christenverfolgungen (unter römischer, islamischer oder kommunistischer Herrschaft)
Die Dogmen der alten ungeteilten Kirche, die in der vorkonziliaren Epoche und den ersten sieben Konzilien (325-787) verkündet wurden und in allen Kirchen gelten, sind für Christen offenbarte Wahrheiten des heilschaffenden Glaubens, die von der Kirche bewahrt, verkündigt, angewandt und fruchtbar gemacht und ausgelegt und definiert werden. Sie sind heilsnotwendig, denn sie verdeutlichen, dass das Heil nur dann möglich ist, wenn die Mensch-Gott-Beziehung sehr innig ist. Authentische Christen, welche die Offenbarung als die „personale und dialogische Selbstmitteilung Gottes im geschichtlichen Medium“ (in Jesus Christus und der apostolischen Kirche) verstehen, stellen durch geistiges Gebet und ein christliches Leben die „lebens- und sinnstiftenden Gemeinschaft“ mit Gott wieder her (Müller, 2005, S. 83). So werden sie von göttlichen Kräften und Eigenschaften für immer fest eingeprägt, so können sie die Verderblichkeit der menschlichen Natur endgültig überwinden.
Die Dogmen sind nicht nur religiös, sondern auch metapolitisch relevant, denn sie sind im Wesen freiheitlich-konservativ. Der siebenbürgische Priester und Neopatristiker Dumitru Staniloae – einer der bedeutendsten Theologen und Mystiker des 20. Jh. und Opfer des Kommunismus (inhaftiert im KZ Aiud/Straßburg am Mieresch, 1958-1963) betont, dass Dogmen für Christen keine Einengung der freien geistigen Entfaltung sind, sondern sie befähigen uns zu einer solchen Entfaltung. Sie sichern demnach dem Glaubenden die Freiheit zu, mit der er als Person von seinem Schöpfer ausgestattet wurde und die nicht der Natur unterworfen ist oder in ihr aufgeht. Deshalb sollen christliche interpersonale Gemeinschaften wie Familien, ethnisch-religiöse Großgruppen, Völker, Nationen und gar Kulturkreise das „ureigenste Gebiet der Freiheit“ und zugleich der „Raum für den Glauben“, d.h. das Gebiet der Ordnung sein (ähnlich wie ein Kloster). Letztendlich schließen sich Ordo und Libertas nicht aus. Das Dogmensystem ist also kein System abstrakter Prinzipien, sondern es besteht in der lebendigen Einheit Christi, in einer Person, „in der Gottheit und Kreatur zusammengeschlossen sind“ (Staniloae, 1985, S. 74-79). Kurienkardinal Gerhard Ludwig Müller, der zusammen mit weiteren freiheitlich-konservativen Geistlichen und Intellektuellen in der Coronakrise einen „Aufruf für die Kirche und für die Welt“ unterzeichnet hat (https://www.eurasischesmagazin.de/artikel/Metapolitik-und-Machtkampf-waehrend-des-Corona-Ausnahmezustands/20170251), betont, dass Dogma den „Glauben der Gesamtkirche“ inhaltlich enthalten muss, der sich biblisch-normativ auf die apostolische Grundlage bezieht und im lebendigen Prozess der Tradition gültig ausgeprägt wird. Seine Wahrheit ist nicht überzeitlich, abstrakt-rationalistisch, sondern die konkrete „Wahrheit der Offenbarungsgeschichte und der von Gottes Geist getragenen Rezeptionsgeschichte im geschichtlich-gesellschaftlichen Leben der Kirche“. Zwischen der geschichtlichen Gestalt der kirchlichen Vermittlung und der Unveränderlichkeit der Wahrheit gibt es keinen Widerspruch. Als „Glaubens- und Sprachgemeinschaft“ schöpft das Dogma das Mysterium des Glaubens nicht aus und sperrt die Offenbarung nicht in die Grenzen der kreatürlichen Vernunft, sondern es dient der „menschlichen Vernunft und Freiheit“, sich durch die „Vereinigung mit Gott in Wahrheit und Liebe“ zu realisieren. Darum besteht zwischen Dogma und Leben kein Gegensatz. (Müller, 2005, S. 80f.)
Diese Erläuterungen wie auch die Dogmen selbst könnten den gottesdienstlich unerfahrenen und theologisch nicht geschulten Lesern als zu „abstrakt-metaphysisch“ erscheinen. Sie sind aber keine Abstraktionen, sondern Bestandteile einer konkreten, lebendigen Einheit Christi, einer interpersonalen Kommunion und Kommunikation zwischen Schöpfer und Geschöpf wie auch (nach dem trinitarischen Vorbild) zwischen Geschöpfen untereinander (etwa in der Familie).
Unsere ganze poströmische Zivilisation beruht auf diesem christlichen Denk- und Dogmensystem. Das beste Beispiel dafür, dass zwischen Dogma und Leben kein Gegensatz besteht, sind die Folgen des trinitarischen Dogmas für die christlichen Völker. Dieses Dogma ist nicht per Zufall im Laufe eines historisch-evolutorischen Prozesses ins Zentrum der Offenbarung gerückt, sondern befand sich dort aus einem „kommunikationstheoretischen Offenbarungsverständnis“ (Müller, 2005, S. 81f.) schon am Beginn der christlichen Revolution. Die sowohl in der indoeuropäischen Religion und Gesellschaftsstruktur (Dumézil, 1989) als auch im jüdischen Alten Testament (Fruchtenbaum, 1997) bereits vorhandene Dreifaltigkeit ist für die christlichen Völker das Urmodell der interpersonalen Liebesgemeinschaft der Menschen, von Familie bis zur Gesamtchristenheit. Dieses Dogma einer heiligen, durch Liebe vereinten und zugleich durch Freiheit in drei Hypostasen existierenden Trinität hat seit der Christianisierung Europas das Verständnis von Familie, Sippe, Gemeinschaft, Volk, Nation und Gesamtchristenheit maßgeblich beeinflusst. Allerdings weniger im hypermoralistisch-ideologischen bzw. abstrakt-utopischen Sinne von Fernsten- und Fremdenliebe, sondern vielmehr im traditionell-europäischen Sinne von konkret gelebter Gottes- und Nächstenliebe.
Der Inhalt der heilsnotwendigen Dogmen muss ständig neu beleuchtet und ausgelegt werden. Das ist die eigentliche Aufgabe der Theologie, die in der Tradition ruht und zugleich aus frischen Quellen schöpft. Die Gläubigen können nicht bei der einfachen Wiederholung der schematischen Formeln und Dogmen stehen bleiben, sondern sie müssen in die unermessliche Tiefe ihres Verständnisses eingeführt werden, das sich auf Bibel und Tradition gründet. Wie die Kirche im Allgemeinen so muss jedes Glied des Kirchenvolkes die Lehre neu und verständlich auslegen und zugleich die gleichbleibenden dogmatischen Grundbegriffe bewahren. Vertiefung und Auslegung bleiben also im Rahmen der Tradition – eine „grundlegende Auslegung der Schrift durch die Sakramente, durch das gottesdienstliche und geistliche Leben der Kirche“ mit dem Ziel, den Zeitgenossen die Offenbarung so zu verdolmetschen, dass sie danach leben können. Der Fortschritt der Theologie steht in direktem Verhältnis zu dem Fortschreiten der Menschheit im Laufe der Zeit. Dieser absolut notwendige Fortschritt ist an drei Voraussetzungen geknüpft: Treue zur Christusoffenbarung (wie sie in der Bibel und der Tradition enthalten und in der Kirche ununterbrochen gelebt wurde); Verantwortung gegenüber den zeitgenössischen Gläubigen; Öffnung und Vorbereitung der Gläubigen für die eschatologische Zukunft (Staniloae, 1985, S. 66, 92, 96, 100). Die Theologie muss also treu gegenüber der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft; sie muss ähnlich wie die Kirche sein, nämlich
Das ist die wahre Theologie des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung, die Europa zum kulturell-zivilisatorischen Vorbild gemacht hat: Durch den Glauben erweist sie ihre Gewissheit, dass Gott sich in Christus in realer Weise offenbart hat. In der Hoffnung eröffnet sie dem Gläubigen die Aussicht auf die völlige Teilhabe an den Heilsgütern, die der offenbarte Christus vermittelt. In der Liebe vermittelt sie durch die immer innigere Verbindung mit Christus und den (christlichen) Nächsten jetzt schon die Teilhabe an den verheißenden Heilsgütern (ebd.). Jeder Versuch, die Bibel, die Dogmen und die Heilsgeschichte außerhalb dieser Theologie und der Tradition auszulegen, hatte negative Folgen: geistige Verirrungen (Glaubensspaltungen, Häresien, Sekten, säkulare Utopien, Ideologien, Ersatz- und Politreligionen) ebenso wie verheerende Konflikte (Konfessions- und Ideologiekriege, Verfolgungen, Diktaturen, Völkermorde, Weltordnungskriege).
Wie bereits erwähnt, erlebt die Westkirche (v.a. die Katholische Kirche) eine große Welle von Kirchenaustritten. Gleichzeitig vertreten nicht wenige westliche Theologen und Würdenträger (einschließlich des amtierenden Papstes Franziskus) linksliberal-globalistische Positionen (Dirsch, 2019, S. 76-79), die mit der christlichen Lehre nichts zu tun haben, „eher mit einer willkürlichen Interpretation der überlieferten Botschaft und einer Geringschätzung der menschlichen Natur“ (Dirsch, F. u.a. 2019a, S. 17). Außerdem unterstützen sie den globalen Great Reset, der laut seiner Planer die Welt durch einen wirtschaftlich-finanziellen, gesellschaftlich-politischen, geopolitischen, ökologischen, technologischen, moralischen und medizinischen Umbruch radikal verändern wird (Schwab u.a., 2020). Dieser Great Reset könnte aller Wahrscheinlichkeit nicht nur die von Menschen nach ihren Traditionen, Umweltbedingungen und Bedürfnissen errichteten Systeme, Institutionen und Ordnungen, sondern die ganze Schöpfung schaden. Diese Entwicklung innerhalb der Westkirche ist jedoch weder neu noch überraschend.
Die Anfänge des Säkularismus, Humanitarismus und Modernismus in der Westkirche reichen bis ins 18. Jh. zurück, als verschiedene aufklärerische Geheimbünde die Kirche und die theologischen Fakultäten zu infiltrieren und ihre christentumsfeindlichen Ideen zu verbreiten begannen (Marshall, 2020). Die Ausbreitung der Aufklärungsideologie in der Westkirche hat zur heutigen Entfernung der „modernistischen“ Kirchenmänner von der christlichen Lehre und der konservativen Christen von der verweltlichen Westkirche geführt. Anders als die Westkirche konnte die Ostkirche zwei Jahrhunderte (1789-1989) die Angriffe ihrer „aufgeklärten“ Feinde erfolgreich abwehren und die Tradition an die nachfolgenden Generationen weitergeben. Sie überlebte sogar die kommunistische Hölle (1917-1989) fast unbeschadet. Trotz oder vielleicht auch gerade wegen Millionen ermordeter Christen, die heute als anonyme oder namentlich bekannte Neumärtyrer verehrt werden (Geisler, 2011), konnte der Kommunismus – der radikalste Abkömmling der Aufklärung und der Französischen Revolution – weder das Christentum aus den Herzen und Köpfen der Menschen noch die Kirche aus der Mitte der Gesellschaft vertreiben, geschweige denn die christliche Identität von der ethnisch-nationalen Identität abkoppeln (siehe Abb.). Der ideologische Krieg endete aber nicht 1989, sondern tobt heute als hybrider Krieg gegen das christliche Europa weiter. 1989 endete nur den Bruderkrieg zwischen den zwei großen Abkömmlingen der Aufklärungsideologie, dem kollektivistischen Kommunismus und dem individualistischen Liberalismus.
Die Bedeutung des Christentums für die nationale Identität bei jüngeren und älteren Erwachsenen im Mittel-/Ost- und Westeuropa, 18-34 J. bzw. 35+ J. (https://www.pewresearch.org/fact-tank/2018/12/04/views-of-national-identity-differ-less-by-age-in-central-eastern-europe-than-in-western-europe/)
Wie einst linke Utopisten die Errichtung eines egalitären irdischen Paradieses anstrebten, streben heute Würdenträger der Westkirche die diesseitige Errichtung eines säkular verstandenen Endreichs an, das aus dem Konzept des wahren Gottesreichs herausgelöst und egalitaristisch gedeutet wird. Es geht also um die Errichtung des von den linksliberal-globalistischen Weltordnungsutopisten propagierten Weltreiches der absoluten Gleichheit, d.h. eines EU-Superstaates bzw. Weltstaates samt Weltführungselite, Weltregierung, Weltpolizei/-armee, Weltwährung, Weltmarkt, Weltreligion, Weltnation usw.
Anders ist die Lage in der viel traditionalistischen Ostkirche, deren Vertreter die Tradition konsequent und unverfälscht weitergeben. Dort versucht die Kirche unsere chaotische Welt zu transzendieren und zugleich das Leben ihres Kirchenvolkes mit Sinn und Wert auszustatten, was sich auch im Verhalten der mittel- und osteuropäischen Völker bemerkbar macht. Diese Kirche, die auch in „apokalyptischen Zeiten“ unter osmanischer oder kommunistischer Terrorherrschaft die Mystik, die Rechtgläubigkeit und den Bezug zur Transzendenz bewahrt
hat, erlebt seit dem Untergang des materialistischen, atheistischen und antichristlichen Kommunismus eine Renaissance.
Die Westkirche, die sich nach der Aufklärung von der christlichen Mystik und Tradition allmählich entfernt hat und heute zu einer rein weltlichen, sozialethischen, globalistischen Institution mutiert, verliert aus eigener Verschuldung immer mehr Gläubige. Bei der Kirchenkritik soll man deshalb nicht die „eine, heilige, katholische und apostolische Kirche“ Christi oder das Christentum kritisieren, sondern die verkehrte Kirchenpolitik und die theologischen, sozialen und individuellen Verirrungen mancher „fortschrittlicher“ westlicher Kirchenvertreter und Theologen. Man sollte zwischen verschiedenen Ebenen unterscheiden: zwischen der sichtbaren, verweltlichten „Institution Kirche“ und der ewigen Kirche Christi, zwischen Universalkirche und Kirchentümern, zwischen der überwiegend mystisch-traditionalistischen, freiheitlich-konservativ orientierten Ostkirche und der überwiegend sozialethisch-modernistischen, linksliberal-globalistisch orientierten Westkirche usw. Die Kirche ist „eins und unteilbar wie der Leib Christi“, sie ist „geistiger und sakramentaler Art“, „gründet in Gott“ und äußert sich in „Glaubenstreue“ und „Lebensethos“. Sie kann deshalb nicht auf soziologische oder (kirchen-)politische Strukturen reduziert werden. Wäre sie eine rein irdische Institution gewesen, wäre die „Einheit der Christen“ nur „trügender Schein“. Kirche muss zwar notwendig katholisch („allbewahrend“) sein, „doch weder die Abhängigkeit von einem irdischen Zentrum, noch ein politischer Konsens vermag Katholizität zu gewährleisten, sondern allein die Treue zur Hl. Überlieferung“ (v. Buchhagen, 2021), d.h. zur Tradition.
Christen, die sich nicht bloß aus ethischen oder soziokulturellen Gründen als solche bezeichnen, sondern dem Kern des christlichen Mysteriums sowohl theologisch als auch praktisch-liturgisch bzw. mystisch-individuell angenähert haben, betrachten die Kirche jenseits aller weltlichen Institutionen, Normen, Ideologien und Doktrinen als „Säule und Fundament der Wahrheit“ (1. Tim 3,15) und somit als Säule einer christlich erneuerten menschlichen Existenz. In ihrem ursprünglichen Sinne, der in der Westkirche mit dem Aufbruch in die Moderne zum großen Teil verloren ging, aber in der mittel- und osteuropäischen Orthodoxie weiter aktuell ist, ist die Kirche die „Vereinigung alles Seienden“, die dazu bestimmt ist, „Gott und die Schöpfung, in sich zusammenzuschließen“. In ihr sind: „Ewiges“ und „Zeitliches“, letzteres dazu bestimmt, „vom Ewigen völlig umschlungen und erfasst zu werden“; „Ungeschaffenes“ und „Geschaffenes“, letzteres dazu bestimmt, „vom Ungeschaffenen verzehrt und vergöttlicht zu werden“; „geistliche Wirklichkeit aller Art“ und „Materielles“, das letztere „zur Durchgeistigung bestimmt“; das „Ich“ und das „Du“, das „Ich“ und das „Wir“, das „Wir“ und das „Ihr“ vereint im „göttlichen Du“. Die Kirche ist das „Ich der Gebete aller bewussten Wesen“. (Staniloae, 1990, S. 162) Dieses Kirchen- und Christentumsverständnis, das für ehrliche, enttäuschte westliche Kirchenkritiker ohne theologische bzw. kirchenhistorische Kenntnisse unbekannt sein mag, für machtpolitische Eliten einfach hinderlich ist und für völlig ideologisierte Establishment-Experten/-Politiker unverständlich erscheint, prägt bis heute die mittel- und osteuropäische (Meta-)Politik und Gesellschaft.
Die ewige Kirche Christi nimmt in Raum und Zeit in verschiedenen Ländern konkrete Gestalt an, „indem sie sich auf wunderbare Weise überall mit Sprache und Wesensart des jeweiligen Volkes verbindet“ (v. Buchhagen, 2021). So sind viele eigenständige orthodoxe Kirchentümer (Patriarchate, Erzdiözesen, Ortskirchen) entstanden: die griechische, rumänische, finnische, ukrainische, georgische, armenische, bulgarische, russische, serbische, japanische, amerikanische, polnische, moldawische, albanische, estnische, lettische, dänische, deutsche usw. Kirche. In der Vergangenheit gab es auch andere ähnliche Kirchentümer, z.B. die germanischen (gotischen, vandalischen, suebischen, fränkischen, langobardischen u.a.) Stammeskirchen bzw. das mailändische, gallische, aquileische oder keltische (britische, irische, schottische) Kirchentum bis diese altkirchliche Autonomie vom päpstlichen Zentralismus beseitigt wurde (Heiler, 1941). Gemäß der Tradition wurde der Gottesdienst immer in der Volkssprache gefeiert, denn am Pfingsten, bei der Sendung des Hl. Geistes, hörte und verstand jeder die Predigt der Apostel in seiner eigenen Sprache. Deshalb gilt jede Sprache, in der Gott „in Geist und in Wahrheit angebetet und verherrlicht wird“, als „Heilige Sprache“. Der orthodoxe Gottesdienst ist „öffentlicher heiliger Dienst“ und zugleich „geistige Volksschöpfung“, denn in ihr errichtet sich das „Volk Gottes als geistiger Kern des jeweiligen Volkes“ (v. Buchhagen, 2021a). Somit „bewahrt die Orthodoxe Kirche nicht allein den wahren Glauben“, sondern „veredelt und heiligt zugleich Sprache, Volk und Volkstum“, und „das Volk wiederum trägt, bewahrt und ehrt seine rechtehrende Kirche“.
Dieser „lebendige Zusammenhang“, so der deutsch-orthodoxe Theologe und Abt Johannes von Buchhagen, „kann nicht ohne Schaden für das Ganze aufgelöst werden. Manche europäische Völker sind trotz politischer und kultureller Unterdrückung in Zeiten der Fremdherrschaft allein durch das orthodoxe Christentum bewahrt worden“ (ebd.). Diese Kirchentümer, die entweder organisatorisch, rechtlich und institutionell völlig eigenständig („autokephal“) oder nur lose an die jeweilige Mutterkirche gebunden („autonom“) sind, bewahren und geben die Tradition unverkürzt und unverfälscht weiter. So sind „Katholizität und Einheit der Kirche“ in freiheitlich-konservativen Sinne gegeben, auf dezentraler, synodaler Basis, ohne päpstlichen Zentralismus und kirchen- oder staatspolitische Zwänge. Wenn die Orthodoxie eines Kirchentums von innen oder von außen zerstört wird, dann kann die Tradition dank dezentraler Strukturen von anderen Kirchentümern her ganz und unversehrt wiederhergestellt werden. Konservative „Überlieferungstreue“ und „Hierarchie“ und freiheitliche „Autonomie“ und „Synodalität“ sind „unaufgebbare Kernprinzipien“ der Orthodoxen Kirche (ebd.).
Für den russisch-estnischen Theologen Alexander Schmemann besteht die Funktion der Kirche in der Welt zwar darin, „ihr ‚eschaton‘ zu entdecken, das Gottesreich als das letzte Ziel zu verkündigen und darauf das ganze Leben des Menschen und der Welt zu beziehen“, denn sie ist keine reine soziale Einrichtung, keine „Agentur zur Lösung der die Welt ergreifenden zahllosen Probleme“, wie die heutige Westkirche. Sie kann jedoch an deren Lösung mitwirken, indem sie dieser Welt die „einzige absolute Sicht“, den „Schlüssel zur Lösung aller Probleme“ liefert (Alexander Schmemann zit. in Kostjuk, 2005, S. 184). Die offenbarte Wahrheit, die göttliche Weisheit, das Wissen über die Schöpfung, die mystischen Erfahrungen und die organisatorischen Fähigkeiten der Kirche, so die Soziallehre der Russisch-Orthodoxen Kirche, können zu Wiederherstellung, Verbesserung und Bewahrung der Ordnung beitragen. Ostkirche und Staat arbeiten schon in vielen Bereichen zusammen:
Friedensschaffung auf internationaler, interethnischer sowie bürgerlicher Ebene; Förderung der Verständigung und Zusammenarbeit zwischen den Menschen, Völkern und Staaten
Die Kirche darf in der Gesellschaft auch andere Bereiche nicht ignorieren:
Die auf der Botschaft Christi errichtete Kirche lehnt viele Punkte der linksliberal-globalistischen Agenda ab. In concreto kämpft nur die Orthodoxe Kirche (und konservative Teile der Katholischen bzw. „versprengte Einheiten“ der Evangelischen Kirche) für die Verteidigung der christlichen Lehre, so wie sie in der Bibel und in der Tradition der Kirche offenbart und entfaltet wurde. Aus ihrer Perspektive steht die linksliberal-globalistische Ideologie im totalen Gegensatz zur christlichen Weltanschauung und ist mit dieser „inkompatibel“, denn „sie wird in der westlichen Gesellschaft von der Weltelite propagiert und drückt ihre Interessen aus. Die Globalisierung ist eine Verwirklichung der utopischen Idee des Mondialismus über die Schaffung einer unitären, übernationalen, strikt kontrollierten Weltgesellschaft auf der Erde. […] Die Teilnahme an den Projekten der Globalisierung beschädigt den geistlich-moralischen Zustand der Person und ist imstande, das Bewusstsein zu verändern und die traditionellen Ideale und Werte zu verlieren.“ (Kostjuk, 2005, S. 314)
Patriotismus, also die Liebe zu Volk und Vaterland, so die offizielle Lehre der lokal, regional bzw. ethnisch-national verfassten Orthodoxen Kirche, ist die Stufe auf der Skala der Nächstenliebe, welche nach der Liebe zu Familie und Gemeinde kommt. Der Mensch ist als individuelles und zugleich gemeinschaftliches Wesen „eingebunden in die Gemeinschaft seiner Gegenwart, aber auch in die Generationenfolge seiner Vorfahren und Nachkommen“. Soziale Verantwortung in diesem Kontext impliziert, dass „die Erinnerung an die Vorfahren wachgehalten und die Heimaterde verehrt wird“, denn „ohne verantwortlichen Patriotismus würde es einem Christen an Freiheit und Liebe, an Dankbarkeit gegenüber Gott, an einem Teil seiner Seele mangeln“. Ähnlich wie die skandinavischen Volkskirchen oder die frühen Stammeskirchen bzw. Kirchentümer sind die orthodoxen Kirchen Volks- bzw. Nationalkirchen, so dass sie auf Volk (oder Nation) und nicht wie die Katholische Kirche auf „Weltgemeinschaft“ oder wie manche Protestantische Kirchen auf „Gemeinde“ fokussiert ist (Kostjuk, 2005, S. 265, 321).
„Der Patriotismus des orthodoxen Christen soll tätig sein. Er äußert sich in der Verteidigung des Vaterlands gegen den Feind, in der Arbeit zum Wohle der Heimat, im Einsatz für das öffentliche Leben, einschließlich der Teilnahme an den Angelegenheiten der Staatsverwaltung. Der Christ ist dazu aufgefordert, die nationale Kultur und das nationale Selbstbewusstsein zu wahren und weiterzuentwickeln.“ (https://www.kas.de/de/web/berlin/publikationen/einzeltitel/-/content/sozialdoktrin-der-russisch-orthodoxen-kirche, II.3., S. 7). Deshalb unterscheidet die überwiegende Mehrheit der Mittel- und Osteuropäer (auch der nicht-orthodoxen Christen) nicht zwischen ethnisch-nationaler und christlicher Identität.
Hat das Volk aber eine biblisch-theologische Fundierung? Für die linkliberal-globalistisch orientierten Theologen und Kirchenvertreter lautet die Antwort nein. Biblisch-theologisch betrachtet hat das Volk zwar „kein eigenständiges hypostatisches Wesen“, es ist aber, so die orthodoxe Deutung, „konstitutiv prägend“ für die Menschen, weil es eine „wesentliche Form geschichtlicher Existenz von Menschen“ bildet: „Das Volk ist keine metaphysische Wirklichkeit, sondern eine Erscheinung relationaler Wirklichkeit als eine Form menschlicher Gemeinschaft, die der Mensch […] nicht selbst bestimmt, sondern in die er hineingeboren wird“. Die Völker sind also nicht die letzte, jedoch die vorletzte Realität. (Henkel, 2003, S. 297). Mit der Ankunft Christi „wird der Begriff Gottesvolk auf die geistige Ebene angehoben, der Volksbegriff aber gleichzeitig nicht aufgehoben“ (Michaelis, 2019, S. 51). Bereits das erste Menschenpaar sprach eine bestimmte Sprache und hatte eine bestimmte Mentalität, eine bestimmte physische und psychische Konstitution. Die ersten Menschen beinhalten in ihnen die ganze genetisch-geistige Erbschaft der Menschheit und gleichzeitig repräsentieren sie die künftigen Völker. Durch Gottes Schöpfungsakt, so die ethnotheologische Begründung der Ostkirche, haben sie Personalität, Gemeinschaftsfähigkeit, Kreativität, Vernunft, Geschichtlichkeit bekommen, damit sie nicht isoliert leben und sich individuell verwirklichen. Nicht nur in Genesis erscheinen die Völker als Glieder der Menschheit, sondern auch in Matthäusevangelium, „Gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker“ (Mt 28,19), während die Johannesoffenbarung die Völker als eschatologische Größen darstellt: „Die Völker werden in ihrem Lichte wandeln, und die Könige der Erde bringen ihre Schätze in sie hinein” (Offb 21,24). Selbst Christus zeigt die Verbundenheit mit seinem Vaterland, obwohl er dort nicht willkommen ist: „Ein Prophet gilt nirgends weniger als in seinem Vaterland“ (Mt 13. 57; Lk 4, 24). Es gibt also eine biblische-theologische Begründung der Völker als Teile des göttlichen Schöpfungsplans, als geschichtliche Entitäten und als Akteure der Endzeit.
Das völlig isolierte, auf sich selbst gestellte Individuum ist eine Abstraktion oder ein kurzlebiges Geschöpf. Wenn alle Menschen auf Zeitleben so überleben könnten, würde das bedeuten, dass sie identisch gebaut sind − mit einem neutralen Charakter, mit gleichen Eigenschaften usw. −, und dass die Unterschiede zwischen ihnen nur durch den Einfluss von externen Faktoren entstehen.
Das wäre für linkliberal-globalistischen Ideologen ein Beweis für die Richtigkeit ihrer Theorien. Aber jeder Mensch besitzt in Wirklichkeit eine Reihe von persönlichen Eigenschaften, die sich auch in der letzten Ecke seines Ichs wiederfinden und aus ihm eine einmalige Erscheinung machen (diese Einmaligkeit jedes menschlichen Individuums wurde inzwischen auch von der Genetik bestätigt). Jeder Mensch kommt einem einmaligen apriorischen Schema folgend ins Leben. Einerseits trägt er ein von Gott konzipiertes Kraftbild in sich, eine himmlische Ikone, die schon vor seinem irdischen Dasein existiert und alle seine persönlichen Eigenschaften virtuell beinhaltet. Andererseits ist er an Partikularitäten (genetisch-familiäre und ethnisch-nationale Determinanten) gebunden, die aus der Vorgeschichte seiner Existenz entstehen. In diesem Sinne ist die ethnisch-nationale Eigenschaft des Ichs kein Zufallsprodukt, keine postnatale Ergänzung der reinen menschlichen Natur, kein geistiges Organ und kein siebter Sinn. Wenn das der Fall wäre, wäre ihre Neutralisierung oder Annullierung möglich. In christlicher Deutung hat Gott durch einen einzigen spontanen Akt Leib und Seele gleichzeitig als Einheit ins Dasein gerufen und die Entwicklung der Welt als eine allmähliche Entdeckung von Formen, derer Archetypen schon vor dem Beginn der Zeit vorhanden waren, geplant. Die ethnisch-nationale Eigenschaft ist also nicht anderes als die in einer bestimmten, intrinsisch determinierten Form verkörperte menschliche Gattung.
Das formlose, von der konkreten Existenz völlig getrennte, rein Menschliche ist eine Abstraktion, mit der nur Sozialutopisten arbeiten können. Der Mensch existiert in einer Vielzahl menschlicher Hypostasen innerhalb seiner Gattung, die sich aus freien Subjekten zusammensetzt. Warum sollte das aus biologisch und kulturgeschichtlich verwandten Menschen bestehende Volk nicht in einer Vielzahl ethnisch-nationaler Hypostasen innerhalb einer Weltgemeinschaft existieren? Diese Weltgemeinschaft wäre somit eine aus der Zusammensetzung freier, souveräner Völker natürlich entstandene Gemeinschaft. (Hoffmann-Plesch, 2020 u. Weber, 2012, S. 95f. im Anschluss an Dumitru Staniloae).
Die Völker sind also – christlich-platonisch formuliert – „Entdeckungen von Modellen in der Zeit, die ewig in Gott bestehen“. Das bedeutet, so die christlich-orthodoxe Lehre, dass die ethnisch-nationale Eigenschaft des menschlichen Ichs „nicht etwa Zufälliges, Oberflächliches, Nachträgliches“, sondern ein „Teil seiner wesentlichen Bestimmung“ ist. Die ethnisch-nationale Eigenschaft ist also nicht zufällig entstanden, sie ist auch keine Eigenschaft neben anderen, wie die rein menschliche Liebe, Freude, Traurigkeit oder das Gerechtigkeits- und Ehrengefühl, sondern sie ist die rein menschliche Liebe, Freude, Traurigkeit oder das Gerechtigkeits- und Ehrengefühl in einer konkreten, einmaligen geschichtlichen Form. Jedes Volk nimmt die Wirklichkeit anders wahr, fühlt anders und reagiert auf außergemeinschaftlichen Herausforderungen anders. Jedes Volk hat andere Wertehierarchien, eine besondere Art, die Welt zu verstehen und eine andere Beziehung zur Natur. Die ethnisch-nationale Eigenschaft ist somit das „Humanum in einer bestimmten Form desselben.“ (Hoffmann-Plesch, 2020 u. Henkel, 2003, S. 296 im Anschluss an Dumitru Staniloae). Die Tatsache, dass sowohl im Alten als auch im Neuen Testament die Völker „Adressaten der Gnade Gottes“ sind, zeigt aus theologischer Perspektive nicht nur, dass die „Ordnung des Menschengeschlechts in Völker“ kein Zufall ist, sondern auch, dass die babylonische (proto-globalistische) Vorstellung einer Vereinigung zur „einen Welt“ oder zur „totalen Menschheit“ verwerflich ist. Während die Vielfalt der Völker als „Reichtum“ zu verstehen ist, kann eine vereinte Welt in Form einer homogenen Menschheit aus biblisch-theologischer Perspektive als „Gefahr der Hybris“ angesehen werden. Denn in der Bibel wird die Vorstellung einer zu vereinigenden „Menschheit“ tatsächlich verworfen und die „Vielfalt der Völker“ als konstitutiv anerkannt. (Wawerka, 2018, S. 180f.)
Während also eine im babylonischen Sinne vereinte Welt aus christlicher Perspektive die Errichtung einer freiheitszerstörenden, unipolaren Welt(un)ordnung implizieren würde, ist eine in Völkern und Nationen geteilte Welt eine natürlich gewachsene Welt, aus der nur eine freiheitliche, multipolare Weltordnung entstehen kann. In einem einzigen Fall würden die Völker dem Willen Gottes widersprechen, so die christlich-orthodoxe Lehre: Wenn die Vielfalt der menschlichen Gattung, ihre Gliederung in Völkern eine Folge des Sündenfalls wäre und somit eine Abweichung von dem Weg, den Gott für die Entfaltung der Menschheit geöffnet hat. In diesem Fall wäre jeder Christ dazu verpflichtet, die Existenz der Völker durch ihre Vereinigung in einer „Weltnation“ zu beenden, um die Menschheit aus diesem gefallenen Zustand zu befreien. Aber die Sünde hat nichts mit der Einheit oder Vielfalt zu tun, sondern sie ist die geistige Trennung von Gott, vom absolut Guten. Durch ihre zerstörerische Kraft verdirbt sie die ganze Schöpfung; sie entstellt die menschliche Natur und führt Menschen und Völker in den Abgrund. Die ethnisch-nationalen Eigenschaften und Existenzarten sind genau wie die Diversifizierung von Flora und Fauna keine Sünde oder Folgen des Sündenfalls. Wenn es so wäre, gäbe es keinen Unterschied zwischen den guten und den bösen Angehörigen desselben Volkes, sondern alle wären durch ihre bloße ethnische Zugehörigkeit böse. Es gibt aber keine bösen Völker, sondern nur böse Individuen, die in bestimmten historischen Situationen ganze Völker dazu bringen können, sich sündhaft zu manifestieren. (Weber, 2012, S. 96ff.; Hoffmann-Plesch, 2020; Henkel, 2003, S. 296ff., alle drei im Anschluss an Dumitru Staniloae). Ohne diese ethnotheologischen Erkenntnisse kann es keine ernsthafte freiheitlich-konservative Metapolitik geben.
Literatur
09.08.2023 13:11:56
29.07.2023 10:14:12
13.01.2023 14:10:35
08.07.2022 17:15:55
18.05.2022 09:35:41
14.05.2022 12:09:22
11.04.2022 14:21:21
19.03.2022 10:08:25
16.07.2021 13:38:36
22.03.2021 21:36:33