09.08.2023 13:11:56
EM-INTERVIEW
Von Hans Wagner
Zur Person: Jonas Grätz |
Dr. Jonas Grätz ist Ukraine- und Russland-Spezialist an der Forschungsstelle für Sicherheitspolitik der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH). Sein Schwerpunkt ist die Energiepolitik. Grätz ist Autor mehrerer einschlägiger Studien. Als Buch erschienen: „Russland als globaler Wirtschaftsakteur: Handlungsressourcen und Strategien der Öl- und Gaskonzerne“. |
Eurasisches Magazin: Es gibt Politiker, die sagen, wir befänden uns wegen der Ukraine in der schlimmsten Krise seit dem Ende des Kalten Krieges. Andererseits fällt der Ölpreis und befindet sich auf einem Niveau, das er 2011 im tiefsten Ost-West-Frieden hatte. Was passiert da - sind die Gesetzmäßigkeiten, dass in einer Krise mit steigenden Ölpreisen zu rechnen ist, nicht mehr gültig?
Jonas Grätz: Dieses sogenannte Gesetz von Preisausschlägen gibt es nur, wenn Marktteilnehmer davon ausgehen, dass wirklich die Ölversorgung betroffen ist. Da aber weder Russland noch westliche Akteure ein Ölembargo in Betracht ziehen oder einen Angriff auf Russland vorbereiten, hat die Krim-Krise nur geringe Auswirkungen auf den Ölpreis. Eigentlich müsste der Preis momentan wegen guter Nachrichten über die Ölproduktion im Iran weiter sinken. Jedoch bleibt er stabil - das könnte auch eine Folge der Krise sein.
EM: Ist der Ölpreis realistischer als die Politiker, oder wird es noch zu einer Verschärfung der Ost-West-Spannungen mit Sanktionen und Gegensanktionen kommen, die in der Lage sind, die Preise für Öl und Gas in die Höhe zu treiben?
Grätz: Ja, ich denke die Marktteilnehmer wissen, dass beide Seiten letztlich voneinander abhängig sind. Wenn Russland in der Ostukraine einmarschieren würde, sähe die Sache anders aus. Dann würden auch Sanktionen im Gas- und Ölgeschäft auf die Tagesordnung kommen und der Preis würde sicher ausschlagen.
EM: Und wie nah sind wir an diesem Szenario dran - riskieren wir gegenwärtig unsere Energieversorgung und Russland seinen Energieexport? Weshalb sind die Positionen derart zementiert – worum geht es den Russen, worum dem Westen wirklich?
Grätz: Präsident Wladimir Putin will verhindern, dass die Ukraine ein stabiler, unabhängiger Nationalstaat wird, da dieser sich gegen russischen Einfluss zur Wehr setzen würde. Letztlich geht es ihm darum, die Ukraine in politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit von Russland zu halten, da nur so die Geschicke des Landes beeinflusst werden können. Dies hatte man gehofft, mit der Stützung von Ex-Präsident Viktor Janukowitsch erreichen zu können. Diese Rechnung ist aber nicht aufgegangen, da er das Land zu stark heruntergewirtschaftet und dadurch eine Revolution provoziert hat. Dementsprechend soll nun die Ukraine destabilisiert werden, bis eine politische Lösung gefunden ist, die Russlands fortgesetzten Einfluss gewährleistet.
EM: Welche Möglichkeiten hat Russland denn, um einen möglichst großen Einfluss auf die Ukraine zu behalten oder zu erreichen?
Grätz: Die zweitbeste Option für Russland ist es, die Ukraine als politische Einheit aufzulösen. Gegenwärtig wird diese Option verfolgt. Nach der Annexion der Krim werden nun Hoffnungen auf eine Föderalisierung des Landes gesetzt, die den Regionen weitgehende Autonomie geben und Kiew so stark schwächen würde.
EM: Und welche Ziele verfolgt der Westen als Russlands Gegenspieler?
Grätz: Dem Westen geht es darum, aus der Ukraine einen wirtschaftlich und politisch starken Staat zu machen. Denn in dem Fall steigen die Chancen, dass westliche Standards und Konzerne in der Ukraine an Einfluss gewinnen, da Russland eigentlich außerhalb der Stärkung des militärisch-industriellen Komplexes kein Entwicklungsmodell für die Ukraine anbieten kann. Der Unterschied zwischen westlichen und russischen Interessen liegt also darin, dass Russland im Prinzip eine Rückkehr zu einem sowjetischen Wirtschafts- und Staatsmodell mit niedrigen Energiepreisen und starkem militärisch-industriellen Komplex vorschlägt, während die EU und die USA die Unabhängigkeit stärken und das Land für globale Kapitalmärkte besser zugänglich machen wollen. Dies bedeutet vor allem eine Stärkung der Rechtstaatlichkeit. Die beiden Entwicklungsmodelle sind also nicht gut miteinander kompatibel – bei dem einen Modell geht es um die Schwächung der Souveränität der Ukraine und die Bewahrung und Stärkung des Bestehenden mit Hilfe günstiger Energie. Beim anderen, dem Modell der EU/USA geht es um die Stärkung der staatlichen Souveränität, aber auch um Einbindung in internationale Märkte. Dies ist ein langfristiges Transformationsprojekt mit vielen Chancen und Schwierigkeiten.
EM: Länder mit Territorialkonflikten können nicht Nato-Mitglied werden. Könnte also Moskau die Verhinderung des Nato-Beitritts der Ukraine durch die Abspaltung und Besetzung der Krim tatsächlich erreichen, wie es im EM-Kommentar von Ulrich Heyden aus Moskau heißt?
Grätz: Ich denke, die Krim kann nicht für diesen Zweck dienen. Wenn die Ukraine wirklich in die Nato wollte, könnte sie den Anspruch auf die Halbinsel aufgeben und hätte so keine Territorialkonflikte mehr. Aber ich denke allen Beteiligten ist klar, dass ein Nato-Beitritt der Ukraine eine massive militärische Gegenreaktion Moskaus hervorrufen würde. Da gegenwärtig niemand bereit ist, sich dem entgegenzustellen, wird es wohl keinen Nato-Beitritt der Ukraine geben können. Auch die Gespräche zwischen Kerry und Lawrow deuten in die Richtung, dauerhaft einen blockfreien Status der Ukraine festzuschreiben. Dies widerspricht dem bisherigen Prinzip der Nato, aufnahmewilligen und -fähigen Staaten den Beitritt anzubieten.
EM: Ist an der Krise um die Ukraine eigentlich Russland allein schuldig oder müssen sich der Westen, speziell die EU, auch Fehler anrechnen lassen – zum Beispiel deshalb, weil sie das Land vor die Alternative gestellt hat: Assoziierung mit Europa und irgendwann Beitritt zur Nato oder ihr habt vom Westen nichts mehr zu erwarten und seit auf Gedeih und Verderb Russland ausgeliefert?
Grätz: Von so einer Alternative weiß ich nichts. Insbesondere denke ich nicht, dass ein möglicher Nato-Beitritt teil der Diskussion oder sogar eine Kondition für Hilfe aus dem Westen gewesen ist. Wie man jetzt sieht, liefert der Westen die Ukraine auch so weitgehend Russland aus, obwohl der Wille zu EU- und wohl auch Nato-Integration bei der derzeitigen Regierung hoch ist. Fehler wurden insofern gemacht, als man der Ukraine Hoffnungen gemacht hat, die man nun offenbar nicht einhalten kann. Daher hätte man sich auf Seiten der EU vorher überlegen sollen, ob man für einen solchen geopolitischen Kampf mit Russland gut gerüstet ist. Für den Fall, dass man diesen Kampf nicht hätte eingehen wollen, hätte man offen von einer Realität neuer Einflusssphären in Europa sprechen und die Folgen für die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen mit Russland thematisieren müssen. Das muss man nun sowieso tun.
EM: Die von unserem Ex-Kanzler Gerhard Schröder mit initiierte Pipeline von Russland durch die Ostsee führt am Transitland Ukraine vorbei. Kann Nord-Stream-Pipeline jetzt zum Segen für die westliche Energieversorgung werden?
Grätz: Ihre Frage suggeriert, die Ukraine wolle die Lieferungen einstellen oder es gäbe einen neuen Erdgaskonflikt zwischen Russland und der Ukraine. Beides ist möglich, insbesondere da Russland mit der Annexion ukrainisches Vermögen auf der Krim konfisziert hat und die Ukraine dafür Gegenleistungen geltend machen könnte, wie etwa Gratis-Erdgaslieferungen des Staatskonzerns Gazprom. Die Nord-Stream Pipeline kann dabei nicht nur für die westliche, sondern auch für die Ukraine selbst ein Segen werden, wenn sich die EU-Staaten mit dem Land solidarisch zeigen. So könnte nämlich weiter Erdgas in die EU fließen, das dann über die Slowakei oder Polen in die Ukraine geleitet werden kann. Generell ist die Pipeline jedoch ambivalent, da sie die Verhandlungsmacht der Ukraine bereits geschwächt hat.
EM: Geplant ist auch eine South-Stream-Pipeline von Russland durch das Schwarze Meer nach Italien und Österreich. Diese soll aber laut EU-Energiekommissar Günther Oettinger nun auf Eis gelegt oder zumindest ausgebremst und verzögert werden. Schneidet sich damit Europa nicht ins eigene Fleisch?
Grätz: Wenn man wirtschaftliche Kosten und politischen Einfluss außen vor lässt, sind mehr Pipelines natürlich immer besser für die Versorgungssicherheit. Allerdings sprechen zwei Argumente gegen South Stream. Zum einen ist die Pipeline mit etwa 55 Milliarden US-Dollar sehr teuer. Vieles davon gibt Gazprom zwar selbst aus, aber auch die Länder in Südosteuropa werden sich beteiligen und erhalten dafür russische Kredite, die zurückgezahlt werden können. Dies wird deren Möglichkeiten zur Diversifikation der Erdgasbezüge verringern. Auch muss Gazprom die hohen Kosten für die Pipeline wieder eintreiben, was bedeutet, dass hohe Preise für das Erdgas erzielt werden müssen. Zweitens versucht Russland mit der Pipeline europäische Regeln auf dem Erdgasmarkt auszuhebeln. Ziel ist es, die Pipeline von der Pflicht auszunehmen, freie Kapazitäten anderen Akteuren auf dem Gasmarkt zugänglich zu machen. Gazprom hat keine Ausnahmegenehmigung für die Pipeline beantragt, was unter EU-Recht eigentlich die einzige Möglichkeit wäre, eine Ausnahme von dieser Pflicht zu erreichen. Stattdessen hat Gazprom auf Verhandlungen über die Pipeline mit der EU-Kommission gedrungen, um Sonderbedingungen für russische Pipelines zu erlangen. Darauf bezogen sich auch die Kommentare von Oettinger. Dieser kann die Pipeline nicht stoppen, sondern nur sicherstellen, dass sich Gazprom regelkonform verhält.
EM: Werden denn erneuerbare Energien unsere Versorgung ohne Atomkraftwerke und ohne Importe aus Russland auf absehbare Zeit garantieren können?
Grätz: Nein, das wird nicht der Fall sein. Wir brauchen mindestens die Kohle, wohl aber auch Atomkraft, um die Gasimporte aus Russland in einem angemessenen Rahmen zu halten. Erneuerbare Energien sind schwankend und nicht steuerbar in der Verfügbarkeit, da es auch keine technisch und ökonomisch machbaren Speichertechnologien gibt, kann die Energieversorgung derzeit nicht zu einem großen Teil auf diese umgestellt werden.
EM: Nochmal zurück zur Frage des Konflikt-Ausmaßes: Worum geht es eigentlich bei der Ukraine-Krise – ist das die nun Rückkehr des Kalten Krieges, die ja schon lange prophezeit wurde, mit anderen Mitteln aber den gleichen Kontrahenten?
Grätz: Für einen Kalten Krieg braucht es ja immer zwei Kontrahenten und ich denke nicht, dass beide Seiten bereit sind für eine solche Auseinandersetzung. Russland ist nicht bereit und der Westen ist es noch weniger. Es geht letztlich darum, ob das nach dem Zerfall der Sowjetunion in Europa etablierte Staatensystem weiter Bestand haben wird. Dieses war nachteilig für europäische Großmächte, aber zum Vorteil kleinerer Staaten. Russland will als imperiale Macht mit einem eigenen, exklusiven Einflussbereich wieder auferstehen, will aber gleichzeitig an den Vorzügen des – westlichen - globalen Kapitalismus dort teilhaben, wo es Nutzen bringt.
EM: Und der Westen?
Grätz: Was die westlichen Staaten wollen, ist schwer zu sagen. Es gibt hier viele Motivationen. Allgemein kann man sagen, dass die westlichen Staaten das westfälische Staatenmodell aus der Zeit des Westfälischen Friedens im Jahr 1648 in Europa stärken wollen. Die Präferenz für dieses Modell hat mehrere Gründe. Erstens haben die europäischen Staaten sich auf ein solches Modell spezialisiert und haben kaum Möglichkeiten für den Umgang mit Imperien. Ein Staatensystem, das auf Beziehungen zwischen Imperien aufbaut, müsste in Europa erst wieder neu geschaffen werden, was mit großen Anpassungskosten verbunden wäre. Zweitens verkörpert dieses System gepaart mit Rechtsstaatlichkeit und dem Primat wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Durchdringung das europäische Erfolgsrezept. Man denkt daher, dass es auch in der Nachbarschaft positive Resultate bringen wird. Drittens erhofft man sich für die Unternehmen entwickelter Staaten neue Chancen durch verbesserte Rechtssicherheit und Marktzugang. Viertens ist die Hoffnung damit verbunden, dass Russland seine imperiale Identität ablegen und auch noch zu einem „normalen“ Nationalstaat in Europa werden könnte, mit dem dann ein gemeinsames Haus bewohnbar wäre. Davon erhofft man sich fünftens nicht zuletzt eine Stärkung des Westens, also des Primats gesellschaftlicher - auch wirtschaftlicher - Kräfte innerhalb demokratisch verfassten Staaten unter sicherheitspolitischer Führung der USA.
EM: Was heißt das konkret?
Grätz: Wie gesagt verspricht sich der Westen davon, dass Russland nicht zu einer Herausforderung des europäischen Staatensystems wird und die für die EU recht erfolgreiche Periode nach dem Zerfall der Sowjetunion fortgesetzt werden kann. Man darf trotz der Herausforderungen der Eurokrise nicht außer Acht lassen, dass die erfolgreiche Transformation zumindest der ersten ostmitteleuropäischen Erweiterungswelle auch auf das Konto dieses Systems geht. Russland, oder besser gesagt der Kreml, verspricht sich davon, dass es als Imperium wiedererstehen und die sicherheitspolitische Rolle der USA durch eine Unterminierung der Nato in Europa diskreditieren kann. Auf Grund der militärischen Stärke würde Russland dann eine dominante Rolle in Europa spielen, und kleine Staaten in Ostmitteleuropa hätten wieder wenig zu melden.
EM: Dennoch redet man im Westen auffallend oft vom neuen Kalten Krieg. Könnte auch dieser neue Kalte Krieg vom Westen für sich entschieden werden, so wie der erste über die Sowjetunion?
Grätz: Wie gesagt, es wird keinen zweiten Kalten Krieg geben, weil insbesondere viele EU-Staaten dies nicht wollen. Die wirtschaftliche Verflechtung ist bereits zu stark und die EU wirtschaftlich zu schwach. Allerdings stellt sich nun mehr denn je die Frage, wie man Russland nicht noch zusätzlich befähigen kann.
EM: Welche Rolle werden die heraufziehende Weltmacht China und die sogenannten Bric-Staaten in dieser Auseinandersetzung spielen?
Grätz: China braucht Russland zur Gegenmachtbildung zu den USA. Es besteht bereits eine informale Allianz mit Russland, die sich etwa im Verhalten Chinas im UN-Sicherheitsrat äußert. Diese Allianz wird sich mit dem gegenwärtigen Konflikt verstärken, wenn auch Russland weiterhin vorsichtig bleiben wird. Dies verringert in jedem Fall erst recht die Optionen des Westens gegenüber dem alten Szenario des Kalten Kriegs. Die Allianz mit Indien hat sich gegenüber sowjetischen Zeiten hingegen abgeschwächt, ist aber immer noch stark. Indien hat aber weniger wirtschaftliches Gewicht im Westen und ist daher hier nicht matchentscheidend. Ähnliches gilt für Brasilien, wo ebenfalls Sympathien für Putins Kurs vorhanden sind. Diese äußerten sich in der Enthaltung bei der Abstimmung über die Resolution zur territorialen Integrität der Ukraine in der Generalversammlung der UN.
EM: Ist der Konflikt im Sinne Konfuzius, dass es nicht zwei Sonnen unter dem Himmel geben kann, von West und Ost bis zum bitteren Ende auszutragen und muss wieder Blut fließen?
Grätz: Diese Frage ist mir zu abstrakt und pathetisch. Es ist in der Tat schwierig, ein multipolares internationales System aufzubauen. Für ein bipolares System ist Russland aber zu schwach. Es ist doch schon Blut geflossen in diesem Konflikt. Dieser verläuft allerdings nicht zwischen West und Ost, sondern zwischen kleptokratischer Elite und Bürgern, die ihre Rechte im aufklärerischen Sinn - West, wenn Sie so wollen - eingefordert haben. Zwischen Ukraine und Russland ist kaum Blut geflossen, weil die ukrainischen Soldaten sich kampflos ergeben haben. Dies war eine Mischung von mangelnder Motivation, fehlender Führung und kluger Einsicht ob der militärischen Übermacht Russlands. Dass es zwischen den Armeen der Nato und Russland zu Blutvergießen oder gar zur Generierung von nuklearer Asche kommen wird, wie es der Chef der russischen Nachrichtenagentur RIA Novosti kürzlich formuliert hat, glaube ich nicht. Von dieser Eskalationsstufe sind wir noch weit entfernt. Es bleibt genügend Raum für wirtschaftliche Sanktionen, gekoppelt mit Verhandlungsrunden.
EM: Herr Grätz, haben Sie herzlichen Dank für dieses Gespräch.
Energie Geopolitik Interview Russland Ukraine
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