09.08.2023 13:11:56
BALTIKUM
Von Ramon Schack
Grenzübergang nach Rußland zur Stadt Iwangorod |
Eine Reise nach Narwa ist eine Reise in den Osten – jedoch keineswegs nur im geographischen Sinne. Kaum hat man im Expreßbus sitzend die prosperierende estnische Hauptstadt Tallinn mit ihrer prachtvollen Altstadt, den urigen Kneipen und den so skandinavisch anmutenden jungen Bewohnern hinter sich gelassen, empfängt einen die menschenleere Landschaft dieser jungen baltischen Nation.
Rund zwei Stunden dauert die Fahrt, bis der Bus die Stadtgrenze von Narwa passiert, und schon auf den ersten Blick beschleicht einen das Gefühl, eine Zeitreise angetreten zu haben. Straßenbild und Architektur erinnern an eine sowjetische Provinzstadt zu Breschnews Zeiten .Graubraune Betonklötze zieren die Puschkinallee, die Haupteinkaufsstraße, dick vermummte überwiegend ältere Menschen bevölkern das winterliche Straßenbild. Der Putz bröckelt von den Wänden und kontrastiert höchst unvorteilhaft mit dem perfekt und liebevoll sanierten Stadtbild in der fernen Hauptstadt.
Direkt hinter dem in Nebel gehüllten Fluß beginnt Rußland |
Straßencafés oder Restaurants, in Tallinn an jeder Ecke zu finden, sind in Narwa Mangelware. Während die Menschen in Tallinn im Eiltempo durch die Straßen laufen, geht man in Narwa gebeugt, als würde die Last der Geschichte, das Erbe des Totalitarismus und die Zumutungen der neuen Zeit den Menschen auf den Schultern lasten.
Narwa ist die drittgrößte und am weitesten im Osten gelegene Stadt Estlands. Rund 60.000 Menschen leben hier. Seit dem 1. Mai 2004 verläuft in Narwa, am gleichnamigen Fluß, auch die östlichste Außengrenze der Europäischen Union.
Auf dem linken Ufer liegt die estnische Festung Hermannsburg, jenseits des Flusses die Zarenburg Iwangorod - dazwischen verläuft die Narwa. |
Narwa liegt rund 200 Kilometer östlich der estnischen Hauptstadt Tallinn. Bis nach St. Petersburg sind es knapp 100 Kilometer. Von der überall in Estland anzutreffenden Aufbruchsstimmung ist hier nichts zu spüren. Die Reise endet am improvisiert wirkenden Busbahnhof. Eine Blechhütte fungiert als Wartehäuschen und Haltestelle zugleich. Kyrillische Schriftzeichen dominieren die Beschriftung an den Geschäften. Die Auslagen und das Sortiment wirken dürftiger als in der Hauptstadt.
„Ja, es gibt noch viel zu tun“, betont Victoria Heinmann von der Abteilung für Entwicklung und wirtschaftliche Zusammenarbeit der Stadt Narwa. „Unsere Zukunft liegt eindeutig im Tourismus“, fügt ihre Kollegin Natalia Orava hinzu. Die Stadtverwaltung ist bemüht, das Image und den Bekanntheitsgrad Narwas zu verbessern.
Blick auf das Narwa gegenüberliegende Iwangorod |
Mit Hilfe von EU-Fördergeldern wird versucht, für die Stadt zu werben. Man stellt das Wahrzeichen Narwas, die Hermannsburg, in den Mittelpunkt dieser Bemühungen. Kürzlich erst wurde eine internationale Konferenz organisiert: „Die Festung im 21. Jahrhundert - ein Fremdkörper oder die Chance auf eine Attraktion“. lautete der Titel der Veranstaltung, zu dem Gäste und Experten aus verschiedenen Ländern Europas geladen waren.
Die Festung wurde gegen Mitte des 13.Jahrhunderts von den Dänen gegründet und später vom Deutschen Orden übernommen. Nach dessen Niedergang war sie erst in schwedischem und dann in russischem Besitz. Durch seine geographische Lage war Narwa schon früh ein begehrter Handelsplatz und im Besitz verschiedener fremder Mächte.
Die tiefverschneite Puschkinallee von Narwa |
Im 19. Jahrhundert verlor die Stadt ihre herausragende Position als Handelsmetropole und Hafen. Sie entwickelte sich stattdessen zu einem Zentrum der Textilherstellung. Zwischen 1918 und 1940 gehörte Narwa zur ersten Republik Estland, danach, bis zu ihrem Ende im Jahr 1991 zur UdSSR. Das Ende der Sowjetunion, die Errichtung der estnischen Staatsgrenze die schließlich zur EU-Außengrenze wurde, führten zu gravierenden ökonomischen Problemen, von denen sich die Stadt bis heute nicht erholt hat.
Der Osten Estlands war zur sowjetischen Zeit das Zentrum des Abbaus und der Verarbeitung von Ölschiefer für zwei Kraftwerke, was der Region gewaltige ökologische Probleme beschert hat. Durch die starke Einschränkung der Ölschieferförderung sind inzwischen viele Arbeitsplätze verlorengegangen. Dies und die Umstellung auf eine Marktwirtschaft haben in Narwa zur höchsten Arbeitslosigkeit in Estland geführt. Viele junge und gut ausgebildete Menschen haben die Stadt inzwischen verlassen.
Abgestellt - die Glocken des alten Turms der Hermannsburg |
Das Hinterland bietet keine Alternative. Direkt hinter der Burg verläuft die Grenze zu Rußland. Auf der anderen Seite liegt die im 15. Jahrhundert von Zar Iwan III. errichtete russische Festung Iwangorod. Der Fluß Narwa trennt die beiden historischen Bauten voneinander.
Rußland liegt jenseits der neuen EU-Außengrenze - zum Greifen nahe und schon seit 1991 unendlich fern. Eine schneebedeckte Leninstatue hat hier, im Innenhof der Festung Hermannsburg, die Stürme der Geschichte überlebt und weist mit ausgestreckter Hand nach Osten. Ein von beiden Seiten umzäunter Fußgängerweg , eingezwängt zischen den Grenzstationen Rußlands und der EU, führt direkt in die Nachbarstadt Iwangorod. Ein lange Schlange von Tagestouristen hat sich vor dem nagelneuen und mit EU-Fördergeldern errichteten Zollbüro gebildet. Einheimische versorgen sich drüben mit Grundnahrungsmitteln oder besuchen Freunde und Verwandte in dem Städtchen Iwangorod, das zu Sowjetzeiten lediglich ein Vorort von Narwa war. Der EU-Beitritt Estlands hat diese Kontakte erschwert.
Die verschneite Lenin-Statue im Innenhof der Hermannsburg von Narwa weist nach Osten |
Blau, rot und grau sind die Farben der verschiedenen Pässe der Mehrheit der estnischen Bevölkerung. Blau steht für den estnischen und somit begehrtesten EU-Pass, rot für den Ausweis der Staatsangehörigen Rußlands und grau für die Staatenlosen.
Knapp zehn Prozent der estnischen Bevölkerung - rund 130.000 - sind Inhaber des grauen Passes und somit in dem Besitz einer „undefinierbaren Staatsangehörigkeit“, wie es im Amtsjargon heißt. In der Stadt Narwa sind es rund 20 Prozent, die keine eindeutig definierte Staatsangehörigkeit besitzen. Nur die Inhaber des roten Passes können die Nachbarstadt Iwangorod problemlos besuchen, alle anderen benötigen ein Visum.
Das alte Rathaus von Narwa |
Narwa muß einmal sehr schön gewesen sein. Eine florierende Handelsstadt, Mitglied im Kaufmannsbund der Hanse, an der Schnittstelle zwischen Protestantismus und Orthodoxie gelegen, zwischen Slawen und Finno-ugrischen Völkern. Vor dem zweiten Weltkrieg galt Narwa, neben dem litauischen Vilnius, als eine der größten Barockstädte Europas .
Im Festungsmuseum zeugen alte Bildbände von der verlorenen architektonischen Pracht. Während des Zweiten Weltkrieges verlief die Front direkt durch die Stadt. In erbitterten Kämpfen wurde Narwa dem Erdboden gleichgemacht.
Neben der Hermannsburg haben lediglich drei klassizistische Gebäude die Zerstörung durch Krieg und Totalitarismus überlebt und ragen heute wie einsame Mahnmale aus dem Beton- und Plattenbaupanorama hervor. Inzwischen gibt es Pläne, einen Teil der alten architektonischen Pracht wiederherzustellen. In- und ausländische Architekten sind schon mit diversen Gutachten beauftragt wurden.
Jugend in Narwa – gehen oder bleiben? |
„Ich glaube an die Zukunft der Stadt“, erklärt der 18-jährige Abiturient Jewgenie. Er arbeitet als Stadtführer für ausländische Touristen und möchte daran mitwirken, den einheimischen Tourismus zu entwickeln.
„Trotz der hohen Arbeitslosigkeit finden wir nicht genug qualifiziertes Personal“, berichtet seine Kollegin Angelina. „Bei vielen steckt noch die alte sowjetische Mentalität im Kopf.“ Die beiden jungen Leute hoffen auf ein baldiges Ende des Grenzstreits mit Rußland. „Wenn wir so etwas wie einen gemeinsamen Naturpark Narwa errichten, auf beiden Seiten des Flusses, würden sowohl Estland als auch Rußland davon profitieren.“, erläutert Jewgeni. Er beherrscht drei Fremdsprachen und besitzt die estnische Staatsangehörigkeit. Dennoch bezeichnet er sich weder als Este noch als Russe. „Ich bin so etwas wie ein Euro-Russe“, erläutert er lachend seine Selbstdefinition. „Nach meinem Schulabschluß werde ich in Tallinn Tourismus studieren und möglicherweise eine Zeitlang ins Ausland gehen. Aber meine langfristige berufliche Perspektive sehe ich in Narwa.“
„Die Stadt bietet genug Potential für ehrgeizige junge Menschen“, bemerkt Angelika. „Es ist schade, daß so viele meiner Freunde und Bekannten weggezogen sind. Ich werde auf jeden Fall bleiben,“ fügt sie selbstbewußt hinzu.“
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Ramon Schack, Jahrgang 1971, ist Diplom-Politologe und arbeitet als freier Journalist. Er wohnt in Berlin und schreibt für die „Frankfurter Rundschau“, die „Welt am Sonntag“ und den „Freitag“. Seine Themengebiete sind vor allem Osteuropa und der Nahe Osten.
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