09.08.2023 13:11:56
UKRAINE
Von Morith Gathmann
Prorussische Demonstration in Charkow in der Ukraine |
us zwanzig Metern Höhe blickt Wladimir Iljitsch Lenin über den riesigen Freiheitsplatz von Charkow. Dieses Denkmal ist es, das die Emotionen der Charkower bis heute hochkochen lässt. Über Wochen hatten die Ostukrainer zugeschaut, wie die Maidan-Revolutionäre im Rest des Landes ein Lenin-Denkmal nach dem anderen stürzten. Am 22. Februar, dem Tag nach der Revolution in Kiew, sollte es auch hier soweit sein.
An diesem Tag geht Alexander Suworow das erste Mal auf die Straße: „Wir sind ein Volk. Wir sollten gemeinsam gegen die korrupten Führer kämpfen, die unser Land unter sich aufgeteilt haben“, sagt der Physiker am Sockel des Denkmals. „Aber warum wollen die Nationalisten die Geschichte zerstören?“
An jenem Tag konnten sie den Sturz des Denkmals abwenden, seitdem ist Suworow auf jeder Demonstration gewesen, zuletzt gegen die Ernennung des neuen Gouverneurs. Und ja, auch er hat gerufen „Rossija, Rossija“. Warum? Suworow antwortet ungewohnt gehässig mit einem ukrainischen Sprichwort: „Mit eurem eigenen Speck hauen wir euch auf den Mund.“ Will sagen: Ukrainische Nationalisten haben die Macht in Kiew usurpiert, dafür rächen wir uns und spielen mit dem Feuer der Abspaltung. „Putin ist für mich kein Besatzer, sondern ein Befreier. Wer soll uns sonst schützen?“
Die Angst vor dem Unbekannten hat Menschen wie Suworow auf die Straßen gebracht. Natürlich haben russische Medien ihre Rolle gespielt. Aber auch die unkluge Politik der Maidan-Führer: Keiner von ihnen hat sich in den letzten drei Monaten im Osten des Landes blicken lassen, stattdessen erfuhren die Menschen hier von der Abschaffung eines Gesetzes, das den offiziellen Gebrauch der russischen Sprache ermöglichte.
Charkow ist mit knapp zwei Millionen Einwohnern die zweitgrößte Stadt der Ukraine und eines der wichtigsten Industriezentren. Zehntausende arbeiten hier in riesigen Fabriken, die zu Sowjetzeiten der Stolz des Landes waren und auch heute noch Turbinen, Traktoren, Panzer und Motoren produzieren – und den größten Teil davon nach Russland liefern. Charkow ist auch deshalb die vielleicht russischste Stadt der Ukraine, auf der Straße hört man praktisch ausschließlich Russisch. Und Russland fördert hier seit Jahren separatistische Kräfte: Der Nachbar finanziert prorussische Organisationen und Kongresse, zu denen Mitglieder der Staatsduma anreisen.
Seit Anfang März rollt eine gegen die neue Kiewer Regierung gerichtete Demonstrationswelle über Charkow und die anderen ostukrainischen Großstädte. Unter dem Motto „Russischer Frühling“ demonstrieren zehntausende Menschen, schwenken russische Flaggen, schimpfen auf die Faschisten, die in Kiew angeblich die Macht übernommen haben. Auch tausende russischer Demonstranten nahmen nachweislich daran teil: Nach Charkow etwa kamen Busse aus dem nur eine knappe Autostunde entfernten russischen Belgorod.
Einen großen Teil der Macht in Charkow hat noch immer Gennadij Kernes. Der 54-Jährige ist seit 2010 Bürgermeister. „Die Menschen in Charkow fühlen sich sicher, die Situation ist stabil“, erklärt er in seinem Arbeitszimmer. Kernes trägt einen elegant geschnittenen Anzug und eine schwarze Designerbrille, aber er ist unrasiert, sieht müde aus. Die letzten zwei Wochen waren für Kernes, der die Demonstranten des Kiewer Maidan als Verrückte und ihre Führer als Schwuchteln beschimpfte, schwierig. Milde gesagt.
Am Tag der Revolution in Kiew spielten sich in Charkow dramatische Szenen ab: Hier hatte sich im Februar die gegen den Maidan gerichtete „Ukrainische Front“ gegründet. Nun versammelten sich im Sportpalast tausende aus den südlichen und östlichen Regionen, und Beobachter erwarteten einen Schlag gegen Kiew, im schlimmsten Fall eine Abspaltungserklärung. Janukowitsch hatte nach seiner Flucht aus Kiew in einer Residenz bei Charkow übernachtet, würde er auftreten? Auf die Straßen eilten weit über zehntausend Maidan-Unterstützer, bereit, den Separatistenkongress zu stürmen. Doch die Blase zerplatzte: Kein Janukowitsch, keine Abspaltungserklärung.
In den Nachbarregionen führte der „russische Frühling“ zu ernsthaften Konflikten: In Donezk ließ sich ein junger prorussischer Aktivist am 1. März zum „Volksgouverneur“ erklären und besetzte zusammen mit anderen Aktivisten die Gebietsverwaltung. Insbesondere wehrten sich die Demonstranten gegen die Ernennung des Multimillionärs Sergej Taruta zum neuen Gouverneur. Erst Tage späte konnte sich die Zentralregierung durchsetzen und die besetzten Gebäude räumen. Auch im benachbarten Dnepropetrowsk verlässt sich die Kiewer Zentralregierung auf die Macht der Oligarchen: Der neue Gouverneur Igor Kolomojskij ist der zweitreichste Ukrainer.
Kernes musste die Absetzung „seines“ Gouverneurs hinnehmen, aber mithilfe des „Russischen Frühlings“ scheint er sich gefangen zu haben. Danach zeigte er seine Macht: Er sprach er vor einer Demonstration mit mehreren tausend Menschen, nach deren Ende einige hundert Männer den noch immer von den Maidan-Protestlern besetzten Gouverneurspalast stürmten. Dass die Aktion damit endete, dass einige Dutzend Protestler auf dem Vorplatz auf die Knie gezwungen und zusammengeschlagen wurden, dass auf der Verwaltung die russische Flagge gehisst wurde, war ein Warnschuss von Kernes an die neuen Machthaber: So geht es auch!
Der Charkower Investigativjournalist Surab Alasania glaubt, dass es eine Stillhaltevereinbarung zwischen Kernes und den neuen Machthabern gibt: Kernes nutze seine Autorität, um Konflikte wie in Donezk zu vermeiden, dafür gebe es keine Ermittlungsverfahren gegen ihn – zumindest bis zu den nächsten Bürgermeisterwahlen. Gründe für eine strafrechtliche Verfolgung gäbe es genug, ist Alasania überzeugt: Charkow sei über die letzten Jahre die „Geldwaschmaschine“ Janukowitschs gewesen, jede Woche seien mehrere Lieferwagen nach Kiew gefahren, um das gewaschene Geld in der Präsidialverwaltung abzuliefern. Aber noch sitzt die neue Regierung in Kiew nicht fest genug im Sattel. „Kernes könnte einen Aufstand organisieren. Er ist populär im Volk“, erklärt Alasania.
Der gemeinsame Nenner der Vertreter des alten Regimes und der neuen Regierung in Kiew scheint vorerst die öffentliche Verurteilung separatistischer Kräfte zu sein: „Charkow ist eine Grenzstadt, aber Charkow ist eine ukrainische Stadt“, beteuert auch Kernes.
Seit wenigen Tagen sitzt einer der Kiewer Sieger als Gouverneur in Charkow, ein paar hundert Meter entfernt vom Bürgermeisteramt, und dass aus ihm und Kernes Freunde werden könnten, darf bezweifelt werden: An Igor Baluta selbst, einem eher farblosen Apparatschik, wäre nichts auszusetzen. Aber der Mann entstammt der Mannschaft von Arsen Awakow, Gouverneur von Charkow bis 2010, jetzt zum Innenminister aufgestiegen und Intimfeind von Kernes. Der verschränkt die Arme und kneift die Augen zusammen, wenn er auf Baluta angesprochen wird: „Ich werde seine Arbeit nicht behindern. Aber wenn er sich mit Rache beschäftigen wird, dann werden wir sehen.“
Seine erste Prüfung hat Baluta bestanden. Als sich an die zweitausend Demonstranten vor der Gebietsverwaltung versammelten und brüllten „Referendum“, „Russland“ handelte Baluta souverän. Geschützt von einigen Hundertschaften Polizei, lud er kurzerhand einige Vertreter der Demonstranten zu Verhandlungen ein, erklärte ihnen, dass Referenden nicht in seiner Kompetenz lägen – und nahm den Demonstranten damit die Luft aus den Segeln.
Tags darauf rief Baluta zu einer dreitägigen Demonstrationspause auf. Aber weder die Maidan-Demonstranten, die sich noch immer jeden Abend versammeln und neuerdings „Putin kaputt“ rufen, noch die Gegenseite wollen sich daran halten.
Ernsthaftes geschah auch nicht in den nächsten Tagen: Am 8. März wurde wie überall in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion der Frauentag begangen, das heißt auch in Charkow wurde getrunken, gefeiert und die Frauen hat man mit Geschenken und Blumen überhäuft wie immer. In einem Irish Pub am Lenin-Denkmal war kein nüchterner Mensch mehr zu finden. Ja, es gibt in der Ukraine auch noch ein Leben abseits von Putin, von der Krim und den Sorgen über die ukrainischen Nationalisten.
*
Der Autor ist Korrespondent von n-ost. Das Netzwerk besteht aus über 50 Journalisten in ganz Osteuropa und berichtet regelmäßig für deutschsprachige Medien aus erster Hand zu allen Themenbereichen. Ziel von n-ost ist es, die Wahrnehmung der Länder Mittel- und Osteuropas in der deutschsprachigen Öffentlichkeit zu verbessern. Weitere Informationen unter www.n-ost.de.09.08.2023 13:11:56
29.07.2023 10:14:12
13.01.2023 14:10:35
08.07.2022 17:15:55
18.05.2022 09:35:41
14.05.2022 12:09:22
11.04.2022 14:21:21
19.03.2022 10:08:25
16.07.2021 13:38:36
22.03.2021 21:36:33