09.08.2023 13:11:56
RUSSLANDDEBATTE
Von Kai Ehlers
Kai Ehlers |
Zur Person: Kai Ehlers | |
Kai Ehlers ist Transformationsforscher mit Schwerpunkt auf den Veränderungen im nachsowjetischen Raum und deren Folgen. Über zahlreiche Features bei verschiedenen Sendeanstalten im deutschsprachigen Raum und über Pressebeiträge hinaus, erschienen von ihm verschiedene Bücher zu diesem Themenbereich. Er ist auch EM-Autor seit der ersten Stunde. Im Januar erscheint sein neues Buch „Russland - Herzschlag einer Weltmacht“ im Verlag Pforte. Außerdem leitet Kai Ehlers den Verein für Ost-West-Dialog, Selbstorganisation und gegenseitige Transformation im interkulturellen Austausch „Nowostroika e.V.“. Siehe auch: www.kai-ehlers.de |
r. Dr. Umland ist wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte der katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Ein ausgewiesener Experte also. Unter dem Titel: „Das postsowjetische Russland zwischen Demokratie und Autoritarismus. Eine Kritik des Vergleichs der Jelzin- und der Putin-Ära aus zeitgeschichtlicher Perspektive“ macht er sich die Mühe, das Wirken des ehemaligen russischen Präsidenten Wladimir Putin historisch neu zu bewerten. Ergebnis der Untersuchungen: Die Ernennung Wladimir Putins zum Präsidentennachfolger könne „einst möglicherweise als der wichtigste politische Fehler Jelzins gewertet werden“, weil Putin die Chance vertan habe, einen „nachhaltig stabilen“ russischen Staat zu schaffen.
Nach solchen Aussagen ist man versucht, den Aufsatz auf dem Stapel der vom Autor selbst beklagten ermüdenden Diskussionen darüber liegen zu lassen, „welchen Platz das heutige Russland auf der Demokratie- und Autoritarismusskala“ einnimmt. Vor dem Hintergrund der in den USA, der EU und der NATO, allen voran von Strategen wie Zbigniew Brzezinski neuerdings forcierten Debatte, wie der Westen nach Bush dem wieder erstarkten Russland effektiver entgegentreten könne, fordert Dr. Dr. Umlands Versuch der historischen Umbewertung Putins jedoch Beachtung, ob man will oder nicht, denn er kündigt ein neues Muster der Russlandkritik an.
Als Experte muss Dr. Dr. Umland nicht in den Chor platter Russophobie einstimmen. Seine Argumentationen kommen als „geschichtsphilosophische“ und „politikpragmatische“ Auseinandersetzung mit falschen „Denkfiguren“ daher, die er dafür kritisiert, dass in ihnen die „naturgemäß chaotische“ Situation Jelzins mit der Putins gleichgesetzt werde, in welcher sich „das aus dieser Revolution herauskristallisierende neue System politischer und ökonomischer Wechselbeziehungen bereits zu konsolidieren“ begonnen habe.
Diese Argumentation klingt ganz sachlich und ist zunächst einmal nicht von der Hand zu weisen: Putin hat das Chaos von Jelzin geerbt und musste Staat und Gesellschaft konsolidieren. Jelzin kündigte das herrschende sowjetische Paradigma auf, Putin musste ein neues russisches herstellen usw. usw. Die Aufzählung ließe sich mit unterschiedlichen Aspekten beliebig fortsetzen.
Aber hat Putin, wie Dr. Dr. Umland meint, die Chance vertan, einen „nachhaltig stabilen russischen Staat“ zu schaffen? Und „wiegt dies umso schwerer“, wie Umland hinzufügt, „als Putin sich – im Gegensatz sowohl zu seinem Vorgänger Jelzin als auch zu seinem Amtskollegen Juschtschenko – auf enorme finanzielle Mittel stützen konnte, welche durch den spektakulären Anstieg der Weltmarktpreise für Energieträger in die Staatskassen gespült wurden“? Und stellt sich, wie der Autor sich schließlich sorgt „vor dem Hintergrund der teilweisen Widerherstellung sowjetischer Zustände im heutigen Russland, wie des Einparteienstaates, staatlichen Einflusses in der Wirtschaft und Gesellschaft oder der Ost-West-Konfrontation, sogar die Frage, weshalb die Russen überhaupt den schmerzhaften Transformationsprozess eingeleitet und durchgestanden haben? Wenn nun doch vieles wieder in alte Bahnen gerät, erscheinen die Entbehrungen der späten Achtziger und Qualen der Neunziger in gewisser Hinsicht sinnlos gewesen zu sein.“
Es sei darauf verzichtet, solchen Formulierungen wie denen eines „nachhaltig stabilen Staates“, der einer „teilweisen Wiederherstellung sowjetischer Zustände“ oder der einer „gewissen Hinsicht“ nachzugehen, in der die Entbehrungen sinnlos gewesen seien. Hier soll es nur um die wichtigsten Grundlinien der Argumentation gehen. Mit Dr. Dr. Umland kann man darin einig sein, dass die Putin zugute gehaltene Stabilisierung schon vor seiner Amtseinführung einsetzte, spätestens als der IWF nach der Krise 1998 nicht bereit war, Russland mit Sofort-Krediten aus der Patsche zu helfen. In der russischen Führung setzte sich die Erkenntnis durch, dass Russland aus eigenen Kräften aus dieser Situation herausfinden müsse. Und siehe da: Wer nach ´98 durchs Land reiste, wurde durch das Auftauchen lange nicht gesehener Produkte aus heimischer russischer Produktion überrascht. Es begann im Nahrungsmittelsektor: russische Wurst, russischer Käse tauchten in den Regalen auf, Produkte der Firma Danone z.B. erschienen plötzlich als Lizenzproduktion. Wenig später folgten russische Konsumgüter in anderen Bereichen.
Aber es war der Ministerpräsident und spätere Präsident Putin, der den so eingeschlagenen Weg in den folgenden Jahren 1999, 2000 konsequent in politische Schritte umsetzte, ohne die auch die besten Absichten in dem Chaos stecken geblieben wären, das durch die Auflösung der UdSSR 1991 und die unmittelbar darauf einsetzende Schock-Privatisierung entstanden war.
An die wichtigsten Maßnahmen, die Putins Weg kennzeichnen, sei kurz erinnert, ohne sie an dieser Stelle einer Bewertung unterziehen zu wollen:
Kurz, die „enormen finanziellen Mittel“, die Putin für seine Politik der Modernisierung der Wirtschaft, der Wiederherstellung minimaler sozialer Versorgungsleistungen und einer offensiveren Außenpolitik, die den Energiereichtum Russlands wieder in russische Kassen fließen ließ, waren nicht einfach „funktionstüchtig“ vorhanden. Deshalb stimmt es auch nicht, dass Putins „historische Aufgabe“ nur gewesen wäre, „die bereits existente Regierungs- und Wirtschaftsstruktur“, „zu stabilisieren, konsolidieren und korrigieren“. Sondern sie wurden der Jelzinschen „Familie“, den oligarchischen Privatisierungsgewinnlern, feudalen Provinzfürsten und – last not least – auch den ausländischen Multis in harten Kämpfen Schritt für Schritt entrissen. Dazu gehören die äußerst harten Auseinandersetzungen mit den strategischen Programmen der USA und der EU, die darauf zielten Russland durch einen Ost-West-Transportkorridor aus seinem von der Sowjetunion ererbten Liefermonopol für Gas- und Öl zu verdrängen und durch Aufkauf russischer Firmen auch im Land selbst die Kontrolle über russische Ressourcen auf dem Energiemarkt zu übernehmen.
Dies alles geschah nicht mit Samthandschuhen. Autoritäre Modernisierung ist aus meiner Sicht nach wie vor der richtige Begriff für diese Politik Putins. An ihr ist aus der Sicht westlichen Demokratieverständnisses in der Tat einiges, ja, sogar vieles zu bemängeln, bzw. auch einfach problematisch, wenn Reformen immer nur von oben verordnet werden. Nur eines kann man von Putin gerade nicht sagen, dass er die Chance verpasst hätte, den russischen Staat und die russische Wirtschaft zu stabilisieren. Wie „nachhaltig“ diese Stabilisierung sein wird, das wird sich nicht zuletzt in der jetzt einsetzenden globalen Krise zeigen müssen. Wirtschaftliche und soziale Probleme großen Ausmaßes stehen vor der heutigen russischen Regierung. Der soziale Dialog mit der Bevölkerung ist dringend entwicklungsbedürftig. Demokratisierungen des erreichten Standes der Stabilisierung sind nachdrücklich geboten, nachdem das Pendel unter Putin so weit auf die Seite autoritärer Strukturen geschlagen hat.
Aber die antiwestliche Stimmung, die Dr. Dr. Umland beklagt, war kein Produkt der Politik Putins, sondern umgekehrt. Putin war ein Produkt antiwestlicher Stimmungen, die von der maßlosen und korrupten Privatisierungspolitik Jelzins ausging. Sie wurde von der Bevölkerung nicht umsonst zur „Prichwatisierung“, das heißt Raub, umgetauft. Am Ende der Jelzinschen Prichwatisierung stand keineswegs ein funktionierender Staat und eine funktionierende Demokratie, wenn man unter Demokratie mehr versteht als bloß eine formale konstitutionelle Fassade, sondern eine staatliche und gesellschaftliche Organisation, die dem Menschen ein Minimum der Versorgung und des sicheren Zusammenlebens ermöglicht.
Am Ende der Ära Jelzin stand kein solches soziales Netz, auch kein funktionierender Föderalismus, sondern die Gefahr einer Tschetschenisierung von Zentrum und Peripherie. Das kann ja auch Dr. Dr. Umland nicht anders sehen, wenn er Jelzins „chaotische“ Politik beschreibt. Putin ist diesen Zentrifugalkräften, die Russland von innen her auseinander trieben, entgegengetreten, zweifellos autoritär. Zugleich hat er die Privatisierung weiter vorangetrieben, was ein durchaus fragwürdiger Spagat ist – aber es ist eine Tatsache.
Rund 70 Prozent der russischen Bevölkerung wählten diesen Mann bei seinem Übergang vom Ministerpräsidenten zum Präsidenten 1999/2000. Warum? Weil er versprach, Grundfunktionen des Staates wiederherzustellen, dafür zu sorgen, dass wieder Steuern, Lohn, und Renten gezahlt würden, dass der Staat Verbrechen bekämpft, Grenzen sicher macht usw. Fundamentale Regelungen, die der Privatisierungsorgie der Schocktherapie zum Opfer gefallen waren.
Also siebzig Prozent der russischen Bevölkerung wählten Putin wieder – ohne Manipulation wie 1996 bei Jelzin, der ohne die Kampagne der Oligarchen nicht ein zweites Mal gewählt worden wäre. Warum wurde Putin wiedergewählt? Weil er durchgeführt hatte, was er versprochen hatte, nämlich eine Verbindung herzustellen zwischen einem starken Russland und einem Minimum an sozialer Sicherheit.
Putins autoritäre Modernisierung war die logische Folge (selbst wenn Jelzin das nicht gewusst haben sollte) aus dem allseitigen Verfall der russischen Staatlichkeit in den Jahren der Auflösung der Sowjetunion und ihrer sozialen Realität, so wie ein Medwedew, der mehr Demokratie wagen will, um diesen Brandtschen Satz hier zu bemühen, die logische Fortsetzung der von Putin erwirkten Stabilisierung ist. Ohne die putinsche Restauration, wäre Russland heute nicht das, was es faktisch wieder ist: Eine selbstbewusste Gesellschaft, die ihren eigenen Weg in eine moderne Gesellschaft in Anknüpfung an ihre eigene Geschichte und Tradition sucht. Ob Medwedew diese Schritte jetzt gelingen, ist selbstverständlich offen.
Viele Details des Umlandschen Aufsatzes wären noch zu erörtern. So die Art, wie er Jelzins autoritären Liberalismus und Putins liberalen Autoritarismus als „unvergleichlich“ gegeneinander stellt: Jelzin der im Ansatz demokratische Revolutionär, Putin der Konservator, der sowjetische Verhältnisse wiederherstellt. Mitnichten! Sie sind nur zwei Seiten einer Medaille: Jelzin ließ 1993 die Duma zusammenschießen. Jelzin eröffnete das Massaker gegen die Tschetschenischen Separatisten. Jelzin kam 1996 nur durch Manipulation durch die mit seiner „Familie“ auf Gedeih und Verderb verbundenen Privatisierungsgewinnler, die so genannten Oligarchen ein zweites Mal an die Macht. Mit Tränen in den Augen hat er sich bei seinem TV-Abschied für die von ihm gemachten Fehler entschuldigt. Eine gute Geste, die ihm dennoch in der Bevölkerung nicht geholfen hat: Im kollektiven Gedächtnis lebt Jelzin als Zerstörer, Säufer und oberster, wie es im Russischen heißt, Korruptionär. Das ist sicher ungerecht, denn die Auflösung der Sowjetunion wie auch der anachronistischen KPdSU, die Förderung privater Initiative war historisch überfällig.
Unsinnig aber ist es, einen unvereinbaren Gegensatz der Phasen von Jelzin zu Putin zu konstruieren, um auf dieser künstlich hergestellten Grundlage für Putin dann andere Maßstäbe anzulegen als für Jelzin: Es war Jelzin, der die „revolutionären“ Jahre der Perestroika mit der Erstürmung der Duma beendete. Es war Jelzin, der eine autoritäre Verfassung inaugurierte, die den Präsidenten praktisch zum neuen Zar machte. Es war Jelzin, der seine Souveränitätsversprechungen gegenüber den Völkern und Provinzen Russlands mit dem Krieg gegen die tschetschenischen Separatisten zurücknahm. Und es war Jelzin, der sein Versprechen von 1991 ein Volk von Kapitalisten zu schaffen damit brach, dass er die Usurpation des Volksvermögens durch eine Minderheit von Privatisierungsgewinnlern ermöglichte, während das Volk ins Elend stürzte. Etcetera.
All dieses erbte Putin – er setzte den Kurs der Rezentralisierung wie auch den der Privatisierung fort, und dies mit autoritären wie auch zugleich liberalen Mitteln. Es macht keinen Sinn, diese widersprüchliche Mischung in Putins Strategie nur von der autoritären Seite her zu betrachten, sowenig es richtig ist, Jelzin nur von der demokratischen her zu beurteilen. Herauszuarbeiten ist vielmehr, was über Putins Amtsjahre hinaus in die Zukunft weist, um verstehen zu können, woran seine Nachfolger anknüpfen können, wenn sie, wie jetzt Medwedew, mehr Demokratie und Selbstbestimmung nach innen und eine selbstbewusste Politik Russlands nach außen versprechen.
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