09.08.2023 13:11:56
NACHITSCHEWAN
Von Hans-Joachim Hoppe
ach wechselnder Herrschaft wurde das Gebiet 1828 von Persien an das Russische Reich abgetreten. Nach dem Zusammenbruch des Zarenreichs war es 1918-1920 erneut zwischen Aserbaidschan und Armenien umkämpft. Im Gefolge der Machtübernahme durch die Bolschewiki fiel die Region an Aserbaidschan. Im Vertrag von Kars 1921 wurde sie als autonomes Gebiet festgeschrieben, 1924-1991 hatte sie den Status einer Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik. 1991 gehörte Nachitschewan zu den ersten Regionen, die sich von der Sowjetunion lossprachen. 2009 feierte die Exklave unter der Schirmherrschaft des aserbaidschanischen Präsidentenpaars Ilham und Mehriban Alijew den 85. Jahrestag ihres Bestehens.
Heute ist Nachitschewan offenbar kein Streitfall mehr, da Armeniens Führung - abgesehen von einigen nationalistischen Gruppierungen - ihre Ansprüche auf die Region aufgegeben hat. Nachitschewan selbst strebt im Unterschied zu Karabach nicht nach Selbständigkeit und internationaler Anerkennung, sondern sieht sich als Bestandteil Aserbaidschans.
Nachitschewan – Vorposten Aserbaidschans Quelle: Wikipedia/ Electionworld |
Dennoch ist Nachitschewan ein Problem: wegen des Konflikts mit Armenien hat es keinen Zugang zum Mutterland Aserbaidschan und ist durch die Blockade an seiner langen Nordgrenze isoliert. Die Außenwelt ist nur durch Übergänge zum Iran und zur Türkei oder auf dem Luftweg zu erreichen. Zur Normalisierung seiner Lage wäre ein Ausgleich zwischen Armenien und Aserbaidschan ein wichtiger Beitrag.
Nachitschewan ist ein Zwitter zwischen Provinz und „Autonomer Republik“ Aserbaidschans. Seine abgelegene Lage und der beanspruchte Autonomiestatus bewirken immerhin eine bevorzugte Behandlung durch die aserbaidschanische Führung. Im Grunde aber ist die Selbstbezeichnung einer „Autonomen Republik“ Fiktion. Die meisten „ministerialen Behörden“ sind nichts als Filialen der Ministerien Aserbaidschans. Außer dem Parlamentspräsidenten, der zugleich als Staatsoberhaupt fungiert, hat Nachitschewan nur wenige selbständige „Ministerien“. Die Ministerien Aserbaidschans führen meistens in ihren Strukturen eine regionale Abteilung für „Nachitschevan“ an, während die anderen Provinzen nicht eigens berücksichtigt werden.
Infolgedessen führt Nachitschewan auch keine regelrechte Ministerliste. Wohl gibt ein merkwürdiges Gemisch aus eigenständigen Ämtern und aserbaidschanischen Filialen für die Region. Ausdrücklich werden dem Parlament von Nachitschewan nach der Verfassung von Aserbaidschan gewisse Vorrechte in den Sektionen Steuern, Budget, Wirtschaftsentwicklung, Sozialpolitik, Umwelt, Tourismus, Gesundheitswesen, Wissenschaft und Kultur eingeräumt. Demgemäß haben auch die Regionalbehörden der Exklave auf diesen Gebieten eine größere Eigenständigkeit, während die Regierung in Baku in der Außenpolitik, inneren und äußeren Sicherheit dominiert. In der Praxis hat aber die Führung Aserbaidschans gegenüber Nachitschewan in allen Fragen das letzte Wort.
Nachitschewan hat immerhin ein eigenes Außenamt, das aber als Departement dem Außenministerium in Baku zugeordnet ist. Dennoch hat Nachitschewan gegenüber anderen Ländern mehr Möglichkeiten zu eigenen Initiativen als etwa die gewöhnlichen Provinzen. Dem kommt auch die Präsenz von zwei ausländischen Konsulaten zugute, nämlich der Türkei und des Iran, sowie das Büro zumindest einer internationalen Organisation.
Die politische Führung der Region ist über die Grenzen des Landes kaum bekannt: Oberhaupt Nachitschewans ist ein gewisser Wasif Talybow, formal Vorsitzender der Ali Medschlis, wie das Parlament der AR Nachitschewan offiziell heißt. Talybow ist mit dem regierenden Alijew-Klan in Aserbaidschan verwandt. Als Heidar Alijew in Nachitschewan Zuflucht fand, unterstützte er ihn beim Sprung an die Spitze Aserbaidschans, während Alijew ihn in Nachitschewan als seinen Verbündeten postierte.
Nachitschewan hat einen eigenen Premier - Alowsat Bachschijew, der seit elf Jahren im Amt ist. Das auswärtige Departement als Teil des Ministeriums von Baku leitet Asgar Ismajlow, zugleich Talybows Berater. Außerdem gibt es noch die Abteilung für Wirtschaftsentwicklung, Investitionen und Außenbeziehungen. Deren Leiter ist Emin Zejnalow, der die speziellen Interessen der Region gegenüber dem Ausland vertritt.
Auch über einen Innenminister verfügt Nachitschewan. In seinem Amtsgebäude ist eine Filiale des Sicherheitsministeriums untergebracht. Daneben gibt es einen Notstandsminister, der dem mächtigen Oligarchen Kamaleddin Heidarow in Baku unterstellt ist, einen Finanzminister, Bildungsminister, Gesundheitsminister, Kultur- und Tourismusminister, einen Kommunikations- und IT-Minister, ein Sozial- und Arbeitsamt, eine eigene Wahlkommission, ein Statistikamt, ein Patentamt und eine eigene Eisenbahnverwaltung. Eigentlich hat Nachitschewan ein Übermaß an Behörden, was aber aufgrund seiner Abkapselung beinahe schon wieder gerechtfertigt ist.
Eine Schlüsselstellung hat der Zoll, der mit Gebühren und Bestechungsgeldern auf dem Flughafen des Landes und an zwei Grenzstellen zum Iran und zur Türkei - für zusätzliche Einnahmen sorgt. Schon nach wenigen Kilometern in jeder Richtung trifft man auf Grenzen, teils natürliche wie Gebirge und den Fluss Aras, oder Straßen- und Eisenbahnübergänge. Lediglich vom Flughafen Nachitschewan-Stadt bestehen regelmäßige Verbindungen nach Moskau, Baku und Gandscha sowie nach Istanbul.
Zum Schutze der Exklave ist dort außer dem Zolldienst und den Polizeikräften das sogenannte V. „Nachitschewaner“ Korps unter dem Kommando von Generalleutnant Karam Mustafajew stationiert.
Nachitschewan hat auch ein Übermaß an Gerichten – einen Obersten Gerichtshof, eine regionale Staatsanwaltschaft und einen Militärstaatsanwalt, dessen Stellvertreter der Bruder des Präsidenten ist.
Auch verfügt die Exklave über mehrere Hochschulen: die Nachitschewaner Staatsuniversität, die Medizinische Hochschule von Nachitschewan, eine Privatuniversität und eine Militärschule der Spezialeinheit „N“.
Formal ist das Nachitschewaner Parlament, die Ali Medschlis, die höchste Instanz, die über Innenpolitik, Budget- und Finanzen, Kultur und Bildung und äußere Beziehungen entscheidet. Tatsächlich aber ist es ihr Vorsitzender Talybow, der die Entscheidungen vorgibt und sein Ländchen wie ein „Pascha“ regiert.
Das Nachitschewaner Parlament besteht aus 45 Abgeordneten, davon zehn aus der gleichnamigen Hauptstadt und immerhin fünf Frauen. Im Parlament sind fast wie in der Sowjetära überdurchschnittlich viele Ärzte vertreten, Hochschulrektoren, Schulleiter, Ingenieure, Künstler und Wissenschaftler sowie die lokalen Parteivorsitzenden und ein Militär. Seltsamerweise sind außer dem allmächtigen Parlamentspräsidenten Talybow im Regionalparlament keine Unternehmer. Fast alle Abgeordneten gehören der im ganzen Land regierenden „Neuen Aserbaidschan-Partei“ (NAP) an. Zwei kandidierten als Unabhängige, nur ein Abgeordneter, ein Chefarzt, vertritt die oppositionelle Aserbaidschanische Volksfront.
Im Parlament Aserbaidschan, das am 7. November 2010 neu gewählt wurde, ist Nachitschewan mit sieben von 125 Abgeordneten vertreten, darunter das Oberhaupt der Exklave Wasif Talybow, die Rektorin der Nachitschewaner Universität, der Vorsitzende der Aserbaidschanischen Gewerkschaftsföderation, der ehemalige Vizepremier als Repräsentant für Nachitschewan-Stadt, der ehemalige Vorsitzende des Jugendverbands Aserbaidschans, der Vorsitzende der Nachitschewan-Sektion der Akademie der Wissenschaften Ismail Hadschijew, sowie der Vorsitzende der Gesamtaserbaidschanischen Volksfrontpartei Gudrat Hasanqulijew.
Die Regierung in Baku kontrolliert Naschitschewan, aber die Führung der Exklave hat seit der Zeit des „Nationalhelden“ Heidar Alijew ihre Netzwerke bis nach Aserbaidschan ausgedehnt. Der von Nachitschewan nach Baku übergesiedelte Präsident Heidar Alijew, der dort zehn Jahre regierte, war ein Garant für diese Verbindung. Jetzt ist es sein Sohn Ilham, der neue Präsident, obwohl er schon in Baku geboren ist.
Der gegenwärtige Premier Artur Rassisade stammt aus der zweitgrößten Stadt Gandja, doch die Ministerposten sind meistens mit Personen aus Baku besetzt. Ihnen sind aber als Stellvertreter oder Departementsleiter immer wieder Personen aus Nachitschewan zugesellt, die für die bevorzugte Region ein Ohr in der Zentrale haben. Bezeichnenderweise sind im lukrativen Zollkomitee die vier Stellvertretenden Leiter ausschließlich Generäle aus Nachitschewan, was nicht verwunderlich ist, da ja Notstandsminister Kamaleddin Heidarow langjähriger Komiteeleiter war. In der Präsidentenadministration, im Innenministerium und im Migrationsdienst haben Nachitschewaner Spitzenpositionen inne. Viele Staatsbedienstete sind in der neuen Generation in Baku groß geworden, aber ihre Familien kommen letztlich aus der Nachitschewan oder haben einen Abschnitt ihrer Karriere in der Exklave zugebracht.
Zur wirtschaftlichen Förderung der Region und Hebung ihres Status weckt die lokale Regierung gerne das Interesse ausländischer Diplomaten, Wirtschaftsvertreter und Besucher aus Kultur und Wissenschaften. Darüber hinaus will die Regierung den Tourismus ankurbeln: Als Land am Fuße des Bergs Ararat, der Nachitschewan überragt, aber schon in der Türkei liegt.
Nachitschewan mit seinen eigenen bis zu 4000 m hohen Gebirgen rühmt sich selbst als „kaukasische Schweiz“ oder vergleicht sich gerne mit der österreichischen Steiermark, wo Talybow vor einiger Zeit mit einer Delegation um Rat und Investitionen warb.
In Nachitschewan haben die Nachbarn Iran und die Türkei als einzige Länder jeweils ein Konsulat. Mit Armenien gibt es keine Beziehungen, was die Bevölkerung wegen der Nähe zu Erewan bedauert. Außerdem hat die Internationale Migrationsbehörde als einzige internationale Organisation in Nachitschewan ein Büro, das sich vor allem mit Projekten der Wasserversorgung befasst.
Die Außenpolitik wird in Baku vorgegeben, doch behält sich die Führung Nachitschewans eine gewisse Eigenrolle bei speziell die Provinz betreffenden Kontakten zum Ausland. Gelegentlich kann sich Nachitschewan auch einen Alleingang leisten wie bei der Anerkennung der Türkischen Republik Nordzypern, der Aserbaidschan mit Rücksicht auf den griechischen Teil Zyperns nicht folgte. Im November 2007 stattete Talybow sogar dem Präsidenten Nordzyperns Mehmet Ali Talat einen Besuch ab.
Nakhichevan, das wegen des Konflikts mit Aserbaidschan um Berg-Karabach im Norden von Armenien blockiert wird, unterhält im eigenen Interesse enge Beziehungen zu den Nachbarländern Türkei und dem Iran. Über den Iran besteht die einzige Möglichkeit einer Straßenverbindung nach Aserbaidschan. Neben der Türkei ist der Iran für die Versorgung Nachitschewans wichtig: über den Iran läuft der Gastransit der aserbaidschanischen Gesellschaft SOCAR, aus dem Iran kommen Gasimporte, Industrie- und Gebrauchsgüter und Lebensmittel.
Nach Jahrzehnten der Abkapselung in der Sowjetära wurden 1989 die Grenzen geöffnet, doch die Infrastruktur zu den Nachbarländern fehlte. Inzwischen wurden Straßen modernisiert und Brücken über die Grenzen zur Türkei und zum Iran gebaut. Tausende von Bürgern der Exklave passieren die Grenze zum Arbeiten und zum Einkaufen. Dabei finden sie sich fast in gewohnter Umgebung, da im Norden des Iran mehrere (bis zu 20 Millionen!) Aserbaidschaner leben. Dieserhalb pflegt die Führung Nachitschewans neben dem kleinen Grenzverkehr Beziehungen nicht nur zu Teheran, sondern auch zu den persischen Nachbarprovinzen, die „West-„ und „Ost-Aserbaidschan“ heißen.
Mit der Türkei ist Nachitschewan nur durch einen neun bis elf Kilometer schmalen Landzipfel verbunden, der als Korridor zwischen Armenien und dem Iran an die Exklave heranreicht. Von dort geht der Verkehr über eine Brücke in die von Aserbaidschanern und Kurden bewohnten türkischen Nachbarprovinzen Kars und Igdir zum Berg Ararat, wo die Arche Noah gestrandet sein soll.
Zur ethnisch verwandten Türkei hat Nachitschewan eine Sonderbeziehung: seit dem Abkommen von Kars (1921) sieht sich die Türkei um Nachitschewans Integrität verpflichtet und droht bis heute bei Spannungen mit Armenien mit der Besetzung des Landes.
Seit der Unabhängigkeit Aserbaidschans nach dem Zerfall der Sowjetunion gehört es zu Gepflogenheiten ausländischer Politiker und Diplomaten, von Baku aus einen Abstecher nach Nachitschewan zu machen, dem abgelegenen, kaum bekannten Ländchen, dass zur Kaderschmiede des Alijew-Regimes in Aserbaidschan wurde. Inzwischen empfängt das lokale Oberhaupt Talybow selbst hochrangige Potentaten in seinem Ländchen und erhält seinerseits Zutritt zu den Staatsführern und Regierungschefs der Türkei und des Iran.
Präsident Ilham Alijew sucht immer wieder die Verbundenheit der Exklave mit Aserbaidschan zu unterstreichen und lädt in seinem „Kronland“, wo seine Familie ihre Basis zum Aufstieg fand, bewusst zu hochrangigen Treffen ein: einer der Höhepunkte war der IX. Gipfel der Staatsoberhäupter der Türkischsprachigen Länder am 2. und 3. Oktober 2009.
Wo es geht, preist Nachitschewans Oberhaupt Talybow sein Ländchen als „Dubai des Kaukasus“ an, als Investitionsoase mit großen Perspektiven. Mit der österreichischen Steiermark entwickelte sich eine enge Kooperation bei der Entwicklung des Fremdenverkehrs. Die Exklave ist an EU-Projekten wie die Programme für erneuerbare Energien, Umwelt und Wassermanagement beteiligt. Mit der Türkei und dem Iran wurden Konsumgüterbetriebe eingerichtet, mit China ein Automobilwerk, das Lifan-Fahrzeuge herstellt, wieder auf Schwung gebracht.
Was an Talybows Idylle stört, sind sein despotischer Herrschaftsstil, der angeblich selbst den der Alijews in Baku in den Schatten stellt. Sein Klan ist an weitmaschigen Handelsketten beteiligt, seine Verwandten, seine Ehefrau und sein Sohn sind Hauptaktionäre der Hauptbank der Region, der Nachitschewan-Bank.
Das Ausmaß an Repression, Korruption und Kriminalität sowie die ärmlichen Lebensbedingungen treiben nach Berichten von Menschenrechtsorganisationen und ausländischen Beobachtern einen Großteil der Bevölkerung außer Landes. Die Defizite seines Landes möchte Talybow, sagen böse Zungen, offenbar durch prachtvolle Regierungsbauten, Sportpaläste, Denkmäler und mondäne Villen und eine penible Sauberkeit überdecken. Angeblich setzte er zum „Putz munter“ auch seine Minister in der Freizeit ein. Wenn allerdings die gesellschaftlichen Verhältnisse stimmig wären, könnte das Land mit seinen Angeboten an Tourismus, Kultur, Bildung und Sport sowohl für Besucher, als auch für die gesamte Bevölkerung äußerst attraktiv sein.
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