09.08.2023 13:11:56
BERLIN-KRIM-BERLIN
Von Juliane Inozemtsev
Bei der Taufe des Söhnchens flossen Tränen des Schmerzes. Foto: Inozemtsev |
ch selbst bin als kleines Kind in einer evangelischen Kirche in Ost-Berlin getauft worden. Doch im Alltag spielte Religion bei uns zuhause keine Rolle. Mir fehlt also eine richtige Bindung an diese Institution, an den Glauben überhaupt. Meinem Mann geht es ähnlich. Er wuchs zunächst in der Sowjetunion auf, in einem überwiegend atheistischen Umfeld. Erst nach Glasnost und Perestroika, Ende der neunziger Jahre, ließ er sich auf Wunsch seiner Mutter taufen. Da war er siebzehn.
Meine Schwiegermutter hatte sich, wie so viele Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion, in den Jahren des gewaltigen staatlichen und gesellschaftlichen Umbruchs der Kirche zugewandt. Und als ihr Sohn, ein angehender Seeoffizier, seine erste große Schiffsreise antreten wollte, hoffte sie, Gott würde besonders schützend die Hand über ihn halten, wenn er getauft sei.
Mittlerweile ist mein Mann ein Kapitän, und er trägt nach wie vor eine kleine goldene Ikone um den Hals, die ihm seine Mutter geschenkt hat. Darauf erkennt man das Bildnis des „Svjatoj Nikolaj“ - des „Heiligen Nikolaj“, der auch als Beschützer der Seefahrer und Reisenden gilt. Mein Mann meint, schaden könne ein solches Heiligenbild zumindest nicht. Vor einigen Jahren ist ein guter Freund von ihm, auch ein Seemann aus Sewastopol, bei der Arbeit tödlich verunglückt. Und obwohl eigentlich jeder weiß, dass eine Taufe vor einem solch tragischen Schicksalsschlag nicht wirklich schützen kann, fragten damals viele unserer Verwandten und Bekannten: War er denn getauft? - Nein, das war er nicht. Religion und Aberglauben, so mein Eindruck, sind in Russland und der Ukraine noch besonders eng miteinander verbunden. Aber ich muss zugeben, dass auch ich dachte: Wir lassen unser Kind lieber taufen. Schaden kann es nicht, und vielleicht hilft es ja doch.
Letztlich war es meine russische Schwiegermutter, die unsere Entscheidung in Richtung der russisch-orthodoxen Kirche lenkte. Sie schlug vor, unseren Sohn in der gleichen Kirche taufen zu lassen, in der auch sein Vater getauft wurde. Das war in der Kirche der Seefahrer, die dem heiligen Nikolaj gewidmet ist, im nördlichen Teil von Sewastopol. Wir fanden die Idee gut und willigten ein.
Genau am ersten Geburtstag unseres Sohnes fand die Taufe dann statt. Kinder können, so las ich, in der russisch-orthodoxen Kirche ab dem achten Tag nach der Geburt getauft werden. Das war früher der Zeitpunkt, an dem es als sicher galt, dass sie überleben werden. Meist tauft man Kinder jedoch nicht eher als vierzig Tage nach der Geburt, weil es der Mutter erst dann wieder gestattet ist, die Kirche zu betreten. Vorher, im Wochenbett, gilt sie als unrein.
Jedenfalls freuten wir uns alle auf den großen Tag, doch dann verlief die Taufe doch ganz anders als erwartet. Im Vorfeld hatte ich mich bei meinen russischen Verwandten nach dem genauen Ablauf der Taufe und den Bedeutungen der einzelnen Handlungen erkundigt. Doch dazu konnte mir keiner so richtig etwas sagen. Den anderen in der Familie ging es eher um das große Ganze als um die Details. Vielleicht ist das ja bei Taufgesellschaften in Deutschland auch oft so. Eines sagte man mir aber doch, und zwar dass es mir als Mutter nicht gestattet sei, während der Taufe bei dem Kind zu sein. Auf meine erstaunte Frage, wieso dies so sei, sah ich in ratlose Gesichter. Das sei eben so eine Regel. Na gut, dachte ich. Andere Kirchen, andere Sitten. Dann übernimmt eben der Papa. Nur ungünstig, dass unser Sohn gerade in einer Phase war, wo er sehr auf mich als Mutter fixiert war.
Als die Tauf-Zeremonie begann, trat „Batuschka“ – „Väterchen“ Georgij, der Priester der Gemeinde, vor den Altar. Durch die blauen und gelben Glasfenster fiel etwas Sonnenlicht in die ansonsten ziemlich düster wirkende Kirche und auf sein Gewand aus Goldbrokat. Weihrauch kräuselte sich in der Luft - das sah sehr schön aus. Doch unserem Söhnchen war die ungewohnte Umgebung nicht ganz geheuer. Mit großen Augen beobachtete er das Szenario. Und ich beobachtete ihn vom anderen Ende der Kirche aus.
Der Priester stimmte dann, mit dem für die russisch-orthodoxe Kirche typischen liturgischen Sprechgesang, einige Gebete an, darunter das Bekenntnis „Simbol very" – „Symbol des Glaubens“. Unsere beiden Taufpaten – im Russischen nennt man sie Taufvater und Taufmutter – sprachen es ihm nach.
Doch als unser kleiner Sohn dann für das Bad im Taufbecken ausgezogen werden sollte, begann er zu weinen. Wie gern wäre ich hingegangen, um ihn zu trösten. Doch weil man mir ausdrücklich gesagt hatte, ich solle das nicht, hielt ich mich zurück. Als der Priester den Kleinen beherzt nahm und in das Taufbecken hob, wurde aus dem leisen ein lautes Weinen. Doch davon ließ er sich gar nicht beirren, wahrscheinlich hatte er das schön öfter erlebt. Vorsichtig goss er dem Kind einen kleinen Schwall über das Köpfchen, murmelte ein Gebet und hob ihn hoch gen Himmel. Inzwischen war das Weinen in ein Schreien übergegangen. Der Priester war eigentlich ein sehr freundlich wirkender Mann, aber für unseren Sohn war er trotzdem ein völlig Fremder.
Obwohl unser Kind danach schnell abgetrocknet und mit einem Taufhemdchen bekleidet wurde, ließ er sich nicht mehr beruhigen und schrie immer weiter. Der Priester hatte Mühe, stimmlich dagegen anzukommen, denn es hallte nur so von den Kirchenwänden. Schaurig! Mir liefen inzwischen auch die Tränen übers Gesicht. Es tat mir im Herzen weh, den Kleinen so verängstigt zu sehen, aber aus Respekt vor den Regeln der russisch-orthodoxen Kirche blieb ich, wo ich war.
Als nächstes pinselte ihn der Priester mit einem bläulichen Öl ein, dem besondere Kräfte nachgesagt werden. So eine Taufe in der russisch-orthodoxen Kirche braucht ihre Zeit. Unser Sohn indessen weinte und weinte - zum Gotterbarmen. Die Gesichter der umstehenden Erwachsenen waren inzwischen auch alle äußerst angespannt. Einzig der Batuschka blieb äußerlich ganz gelassen und strich unserem Sohn sanft mit dem Pinsel über die Stirn, die Augenlider, die Nase, die Lippen, die Ohren, die Brust, die Hände und Füße und sprach dabei: „Empfange den Heiligen Geist!“
Als das Töchterchen getauft wurde vergoss die Mama Tränen des Glücks. Foto: Inozemtsev |
Zum Abschluss der Zeremonie gingen der Priester und der Taufvater, das war der Bruder meines Mannes, mit dem Kind hinter den Altar, in jenen Bereich, der das Himmelreich symbolisiert. Jetzt war also nicht nur Mama, sondern auch noch Papa außer Sichtweite. Die Folge: hysterisches Schluchzen beim Kind. Gerade als ich einschreiten wollte, kamen sie aber wieder nach vorn, und der Spuk war, Gott sei Dank, endlich vorbei. Ein anderer Priester fragte mich: „Sind Sie die Mutter?“ Ich bejahte unter Tränen. „Nun gehen Sie schon hin und trösten Sie Ihren Sohn!“ Mir schien, als schüttele er verständnislos den Kopf. Doch darüber konnte ich in diesem Moment nicht weiter nachdenken.
Ich stürzte zu meinem Kind und herzte und küsste es. Und ich fühlte mich schuldig, weil ich das nicht schon viel früher getan hatte. Ich war wütend auf die russisch-orthodoxe Kirche und auf mich selbst.
Doch wie groß wurde mein Ärger erst, als ich einige Tage später erfahren musste, dass diese vermeintliche Regel, nach welcher ich als Mutter mich hatte fernhalten müssen, in dieser Form gar nicht existiert! Eine russische Freundin, der ich von der Taufe am Telefon erzählt hatte, klärte mich darüber auf, dass diese nämlich nur innerhalb der ersten vierzig Tage nach der Geburt gelte, nicht aber mehr bei einem einjährigen Kind.
Mir fehlten die Worte. Jetzt verstand ich auch, warum der zweite Priester den Kopf geschüttelt hatte. Ihm war sicher schleierhaft gewesen, warum ich so lange gezögert hatte, zu meinem Kind zu gehen. Man kann sich vorstellen, dass ich auf meine Verwandten, die mich so falsch instruiert hatten, erst einmal ziemlich ärgerlich war.
Mein Eindruck ist, dass gerade bei den „Neugläubigen“, damit meine ich jene, die sich der Kirche in den letzten Jahrzehnten und Jahren relativ spontan zugewendet haben, wenig religiöses Wissen vorhanden ist, und dass häufig auch einfach das Interesse fehlt, die Zusammenhänge zu hinterfragen. Das ist mir auch schon an anderen Feiertagen, zum Beispiel an Ostern, aufgefallen. Nach dieser verpatzten Taufe nahm ich mir aber vor: So etwas passiert mir nicht noch einmal!
Als dann zwei Jahre später unsere kleine Tochter geboren wurde, stand für meinen Mann und mich fest, dass wir sie zwar auch russisch-orthodox taufen lassen wollen, aber in einer anderen Kirche und natürlich ohne das Kind dabei allein zu lassen. Freunde empfahlen uns eine kleine Kirche etwas außerhalb von Sewastopol. Und diesmal war alles anders. Wir tauften unsere Tochter gemeinsam mit ihrem kleinen russischen Cousin. Meine Schwägerin war also mit ihrem Baby an meiner Seite. Die Sonne schien hell durch die bunten Glasfenster hinein, die Atmosphäre war freundlich und warm. Batuschka Sergej sprach mit so beruhigender Stimme, dass unser sechs Monate altes Baby während der fast zweistündigen Zeremonie still und zufrieden zuhörte. Die Kleine war die ganze Zeit auf meinem Arm, und ihr großer Bruder stand ganz dicht bei uns. Ich hatte wieder Tränen in den Augen - diesmal aber vor Glück.
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