Feindschaft im Namen GottesRELIGION

Feindschaft im Namen Gottes

Feindschaft im Namen Gottes

Religionen erheben den Anspruch, die allein selig machende Wahrheit zu verkünden. Alle Menschen, die eine andere Weltanschauung vertreten, gelten mithin als Ungläubige. Deshalb sind religiöse Feindschaften die dauerhaftesten auf Erden. Sogar innerhalb der gleichen Religionsgemeinschaft: Sunniten sprengen schiitische Heiligtümer, Schiiten richten Massaker unter Sunniten an – alles im Namen des gleichen Gottes, alles im Namen Allahs. So, wie einst Christen gegen Heiden und Juden wüteten, Katholiken gegen Hugenotten und Protestanten, veranstalten Muslime im 21. Jahrhundert Pogrome. Islamisten greifen Botschaften christlicher Länder an wegen der Veröffentlichung von Karikaturen des Propheten Mohammed. Im Gespräch mit dem Eurasischen Magazin analysiert der Historiker Prof. Dr. Pedro Barceló die Hintergründe.

Von Hans Wagner

  Prof Dr. Pedro Barceló
  Prof. Dr. Pedro Barceló, Jahrgang 1950, lehrt seit 1994 Alte Geschichte in Potsdam, davor in Eichstätt und Erfurt. Außerdem ist er Gastprofessor in Pretoria/Südafrika, Sofia/Bulgarien, Valencia und Castellón/Spanien.

Seine Forschungsschwerpunkte: Karthago, spätantike Kultur- und Religionsgeschichte.

Von ihm sind u.a. erschienen: „Expedition Geschichte“, Braunschweig 2004 (Diesterweg Verlag), „Hannibal: Stratege und Staatsmann“, Stuttgart 2004, (Klett-Cotta-Verlag), „Kleine griechische Geschichte“, Darmstadt 2004, (Primus-Verlag/ Wissenschaftliche Buchgesellschaft), „Kleine römische Geschichte, Darmstadt 2005, (Primus-Verlag/ Wissenschaftliche Buchgesellschaft).
Prof Dr. Pedro Barceló  
Prof Dr. Pedro Barceló  
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urasisches Magazin: Zerstörte Botschaften, verkohlte Autos, brennende westliche Nationalflaggen von Indonesien bis Algerien wegen der Verletzung religiöser Gefühle von Muslimen – ist Religion neben Seelenbalsam und Opium fürs Volk, wie Lenin meinte, angesichts einer solchen Mobilisierung von Massen auch ein Machtfaktor?

Pedro Barceló: Die Religion war immer ein Machtfaktor. Schon im Altertum sind Religion und Politik nicht voneinander zu trennen. Das gilt auch für die Moderne. Auch heute ist Religion ein Machtfaktor. Dennoch hat sich etwas Entscheidendes verändert. Durch die Struktur der monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam, die nur einen einzigen, allumfassenden Gott anerkennen, hat die Religion eine besondere Sprengkraft bekommen. Vor allem dann, wenn die Politik eines Landes und seine Religion nicht klar getrennt sind, wie das beim Islam der Fall ist.

Die Mobilisierung der gläubigen Massen erfolgt über den Bauch

EM: Woraus resultiert diese Sprengkraft?

Barceló: Wo die oberste religiöse Instanz des Staates gleichzeitig auch die politische oberste Instanz ist, bekommt jede religiöse Äußerung oder auch nur Anspielung sofort eine politische Dimension. Wir erleben das in diesen Tagen bei der Aufregung, die durch Veröffentlichung von Karikaturen des Propheten Mohammed in dänischen Zeitungen hervorgerufen wurde. Sie ist weitgehend künstlich hervorgerufen worden, wurde von politischer Seite regelrecht inszeniert. Das wird schon daran erkennbar, daß die Menschen, die da auf die Straße gingen, die Karikaturen gar nicht gesehen haben. Sie konnten gar keine beleidigten religiösen Gefühle entwickeln. Das heißt, sie handelten auf Anweisung der politischen Führer ihrer Regime. Die Mobilisierung lief dabei über den Bauch, nicht über das Gehirn. Es wurden politische Losungen ausgegeben, vermischt mit religiösen Parolen, und diese wurden befolgt. Die Menschen waren gar nicht in der Lage zu überprüfen, was wirklich vorgefallen ist. Sie wurden dazu angestiftet, ihre latenten antiwestlichen Gefühle exzessiv auszuleben und zu artikulieren.

EM: Also die Inszenierung des Aufstands der gläubigen Massen zu politischen Zwecken?

Barceló: Natürlich, das ist unübersehbar. Die Länder, in denen besonders heftig demonstriert wurde, sind eher säkulare Systeme und keine Gottesstaaten. Also Syrien, Libanon, die palästinensischen Gebiete, wo am meisten Menschen auf die Straßen gingen und Botschaften angezündet haben. Fundamentalistische Gebiete der muslimischen Welt, wie Saudi Arabien, sind kaum betroffen. Das fällt auf.

EM: Wie gefährlich sind solche politisch-religiösen Regime ?

Barceló: In einer Reihe dieser Länder lagern riesige Energiereserven, und es gibt Handelsbeziehungen, die der Westen nicht so leicht aufs Spiel setzen möchte. Der dänische Ministerpräsident sah sich schon genötigt zu versichern, in Dänemark seien keine Koranbücher verbrannt worden. Es hatte ein solches Gerücht gegeben und das hatte genügt, um Öl ins Feuer zu gießen. Da mußten es dann plötzlich gar keine sichtbaren Beleidigungen wie Karikaturen mehr sein. Also hat der Regierungschef sich quasi für etwas entschuldigt, was gar nicht passiert war, um damit zu versuchen, die aufgehetzten Massen zu besänftigen. Das ist völlig verrückt.

Der Name Gottes als Waffe für den politischen Kampf

EM: Der Nahe Osten und auch der Kaukasus sind wahre Pulverfässer voll mit religiösem Fanatismus. Kein Tag vergeht ohne Blutvergießen im Namen Gottes. Kann sich der Historiker eine Situation vorstellen, in der das jemals aufhören würde?

Barceló: Historiker sind keine Propheten. Aber ich glaube, diese Instrumentalisierung der Religion, der Name Gottes als Waffe für den politischen Kampf, ist nur in Extremsituationen möglich. In Europa würde kaum jemand auf die Idee kommen, heute eine solche Instrumentalisierung von Religion und Gott für seine Politik zu versuchen. Sie würde nicht funktionieren. Das zündet nur, wo die Anrufung Gottes immer verbunden ist mit einer ganz bestimmten politischen Botschaft. Zum Beispiel der nationalen Befreiung, der Abwehr des großen Satans oder ähnlichem. Von daher denke ich, daß diese Situation auch lösbar ist. Ich glaube nicht, daß wir davon ausgehen müssen, daß es immer so sein muß und wird, daß im Namen Gottes getötet und zerstört wird. Auch das mittelalterliche Europa kannte solche religiösen Aufgeregtheiten, denken Sie an die Kreuzzüge, die Glaubenskriege oder auch an die Hexenverbrennungen. Die Menschen hierzulande sind immer wieder verrückt gemacht worden durch unsägliche Parolen und Hetzereien. Heute ist davon kaum etwas geblieben. Und man kann daher prognostizieren, daß auch die muslimische Welt irgendwann der Gewalt und dem Fanatismus entsagen kann.

EM: Im Irak stehen sich mit der christlich fundamentalistischen Demokratie Amerikas und den auf Stammesherrschaft gegründeten Lehren des Islams zwei Weltanschauungen und zwei Machtgebilde gegenüber, die beide einen religiösen Absolutheitsanspruch vertreten. Ist da Frieden überhaupt denkbar?

Barceló: Ich würde das nicht so hoch hängen. Präsident Bush persönlich steht zwar dem fundamentalistischen Bewußtsein in den USA sehr nahe, das ist unzweifelhaft. Aber ich glaube nicht, daß das unbedingt auch für seinen Politikanspruch gilt und daß die Amerikaner im Irak als Vertreter einer christlich-fundamentalistischen Linie auftreten. Genausowenig wie die Iraker andererseits in ihrer Mehrzahl einer muslimisch-fundamentalistischen Richtung  angehören. Unter Saddam Hussein, der ja wirklich nicht als religiöser Eiferer hervorgetreten ist,  war das Land ein weitgehend laizistischer Staat. Es gibt auch heute im Irak nicht das große fundamentalistische Potential. Außerdem ist das, was vorhanden ist, total zerstritten.
Es gibt viele Kämpfe mit vielen Fronten. Es geht um den Kampf gegen die Besatzungsmacht, um die Interessen von Al Kaida, um die Machtbalance zwischen den verschiedenen Stämmen und Gruppierungen, darum, wer im zukünftigen Irak die Macht ausübt. Dabei spielt auch die religiöse Konfrontation eine Rolle, aber keineswegs eine Hauptrolle.

Der Beitritt als 51. Staat der USA wäre für Israel die beste Zukunftsgarantie

EM: Und wie ist es zwischen dem jüdischen Staat Israel und den islamischen Stämmen der Palästinenser - wo ist der Gott, der hier Frieden stiften oder diktieren könnte?

Barceló: Da gibt es leichtere Fragen. Das Problem zwischen Juden und Palästinensern hat natürlich eine religiöse Dimension, das ist gar nicht zu leugnen. Das beginnt mit Jerusalem – ist es eine muslimische oder eine jüdische Stadt? Da geht es nicht nur um die juristischen Besitzerrechte, sondern es geht wirklich um die religiöse Legitimation. Für fromme Juden ist diese Frage gelöst und für fromme Muslime genauso – beide betrachten Jerusalem als die Stadt ihrer Religion. Es gibt auf beiden Seiten allerdings auch Leute, die gerne eine pragmatische Lösung sehen würden, die beide Religionen zufriedenstellen könnte. Eine solche Lösung ist aber zur Zeit nicht sichtbar. Es ist möglich, daß in Israel nach Scharon eine Regierung kommt, die genau so unnachgiebig ist wie die Hamas auf der anderen Seite. Allerdings wird die Hamas relativ schnell merken, daß man Prinzipien immer dann leicht aufstellen kann, wenn man nicht regieren muß. Sie wird also Kompromisse eingehen müssen, schon um die finanzielle Unterstützung der EU nicht einzubüßen.

EM: Sie halten also Entspannung für möglich?

Barceló: Zumindest sind auf längere Frist friedlichere Zustände denkbar. Aber es sind ja auch die auswärtigen Mächte mit im Spiel. Der Iran zum Beispiel ist sehr interessiert daran, daß das Problem zwischen Juden und Muslimen gerade keine Lösung findet. Es gibt Augenblicke, wo ich mir als einfachste Lösung den Beitritt Israels zur amerikanischen Union vorstelle, als 51. Mitglied der Vereinigten Staaten von Amerika. Dann hätte das Land eine wirkliche Zukunftsgarantie. Aber  das bleibt natürlich eine Utopie. Das wollen selbst die Israelis nicht.

EM: Wenn man sich folgende Tatsache vor Augen hält, könnte man ins Grübeln geraten: die drei der im westlichen Eurasien hauptsächlich agierenden großen Weltreligionen gehen auf eine gemeinsame geistige und spirituelle Wurzel zurück: die jüdische als älteste, daraus die christliche und als jüngste der drei die islamische. Und dennoch wurden und werden gerade im Namen dieser drei Religionen bis auf den heutigen Tag die blutigsten Kriege geführt. Sind Religionen ein Fluch für die Völker – und gar nicht deren Segen?

Barceló: Ein Fluch würde ich nicht sagen. Die Problematik liegt im monotheistischen Charakter dieser drei Religionen. Jede erhebt den Anspruch, die eigentliche, die wahre Religion zu sein. Das ist vor allem im Falle der jüngsten dieser Religionen, also im Falle des Islams ein Problem. Das Christentum erhebt diesen Anspruch ja auch. Aber es hat im Verlauf der letzten tausend Jahre gelernt, sich den gegebenen historischen, gesellschaftlichen und geistesgeschichtlichen Gegebenheiten anzupassen. Heute hat es seine Rolle in den aufgeklärten, demokratischen Staaten angenommen. Die Kirche ist nicht mehr das bestimmende Element und Machtmittel, das es im Europa des Mittelalters gewesen ist. Das gleiche gilt im großen und ganzen für das Judentum.

Der Islam will seine Religion weltweit verbreiten und sie für alle Menschen verbindlich machen.

EM: Und wie ist das im Falle des Islams?

Barceló: Der Islam hat seit Jahrhunderten keine Veränderung erfahren. Es kam zu keinen großen theologischen Kontroversen. Es gibt keine islamische Aufklärung. Eine Zeitlang schien es mir so zu sein, daß der Iran vielleicht der Ausgangspunkt für eine islamische Revolution hätte werden können. Und zwar insofern, daß die Menschen von den Mullahs derart enttäuscht sein würden, daß sie von der Kritik an Personen zu einer Kritik an den Inhalten kommen würden. Diese Erwartung hat sich allerdings bislang nicht erfüllt. Deshalb steht im Islam noch immer eine gründliche Revision, Deutung, also Neuinterpretation und damit Anpassung der eigenen Glaubensinhalte aus. Während die beiden anderen monotheistischen Religionen, nämlich Christentum und Judentum, ihre Erwartungshaltung in bezug auf eine weltumspannende, beherrschende Rolle deutlich reduziert haben, hat das im Islam nicht stattgefunden. Die muslimische Geistlichkeit und auch viele Muslime selbst streben an, die Religion des Islams weltweit zu verbreiten und sie für alle Menschen verbindlich zu machen.

EM: Wie war das eigentlich in der Antike, in der noch keine der monotheistischen Religionen eine Rolle spielte?

Barceló: Die Antike kannte viele Götter. Aber sie war deswegen nicht friedlich. Im Gegenteil, die Antike war geradezu unfriedfertig. Und die Religion wurde dabei durchaus instrumentalisiert. Wenn in der Antike ein Krieg geführt wurde, dann niemals ohne die Götter. Jede Seite rief die eigenen Götter an, bevor ein Krieg begonnen wurde. Man achtete auf schicksalhafte Zeichen, die von einem Krieg abrieten oder die den Sieg verheißen sollten. Am Ende siegten oder verloren dann immer beide - die Kriegführenden und ihre Götter. Insofern waren antike Kriege immer auch Kriege, die eine religiöse Komponente hatten. Aber in einem Punkt unterscheidet sich das antike System entscheidend von der Moderne. Es gab nicht den einen Gott, dem sich alle beugen mußten. Insofern waren antike Kriege zwar politische Kriege mit einer religiösen Komponente – aber keine Religionskriege.

EM: Sind unsere modernen monotheistischen Götter mit ihrem Absolutheitsanspruch die grausameren?

Barceló: Der Eindruck entsteht – aber es sind ja die Menschen, die Krieg führen. Insofern kommt es immer darauf an, was Menschen aus ihrer Religion machen, welche Handlungen sie im Namen ihrer Götter begehen. Von den blutigen Kriegszügen Alexanders des Großen, der immer im Einklang mit allen Göttern stand, ihnen huldigte und Tempel errichtete, über die Religionskriege des Mittelalters bis zu den Vernichtungskriegen der Moderne haben sich Menschen bis auf den heutigen Tag immer wieder auf Gott berufen, um die schlimmsten Taten zu begehen.

„Religion braucht zur Durchsetzung staatliche Macht und ein Staatswesen für seine Legitimation die Religion.“

EM: Eurasien ist der Kontinent der Religionen – die heute weltweit bedeutendsten religiösen Denkgebäude sind diesseits oder jenseits der „Religionsscheide“ Hindukusch entstanden, wie der Religionsforscher v. Glasenapp formulierte. Wie läßt sich das historisch erklären?

Barceló: Eine historische Erklärung hierfür gibt es nicht. Es ist eine Beobachtung, eine Tatsache, aber warum das so ist, entzieht sich unserer Kenntnis.

EM: Was war eigentlich erst da, die Religion oder die Macht - entstehen durch Religion Machtgebilde oder entstehen mit Hilfe von Macht Religionen?

Barceló: Beides geschieht. Das sind Prozesse, die einmal so verlaufen können oder auch anders. Überall dort, wo eine staatliche Organisation entsteht, wo sich ein Staatswesen bildet, gibt es seit dem Altertum auch Götter, die die Existenz dieses Staatswesens verbürgen. Ein Staatswesen selbst ist ein Machtgebilde, das über Ressourcen gebietet, organisiert ist, eine Infrastruktur besitzt, eine Stadtmauer usw. Parallel zum einen entwickelt sich auch das andere. Was nun eher da war, ist wie die Frage nach der Henne und dem Ei. In Wahrheit bedingt es sich gegenseitig. Religion braucht zur Durchsetzung staatliche Macht und ein Staatswesen für seine Legitimation die Religion.

EM: Die Religionen Eurasiens, die auf der anderen Seite des Hindukuschs zu Hause sind - also Buddhismus, chinesischer Universalismus, Hinduismus - sind nicht zu Exportschlagern für die übrige Welt geworden. Ganz anders  als die aus der jüdischen Wurzel, nämlich Christentum und Islam, die weltweit am meisten verbreitet sind. Wie ist das zu erklären?

Barceló: Das Christentum, das sich aus dem Judentum entwickelte, hatte eine hervorragende Plattform, über die weder der Buddhismus noch der Hinduismus verfügten, nämlich das Imperium Romanum. Nachdem es sich gegen die römische Staatsreligion durchgesetzt hatte, wurde das Christentum im gesamten römischen Reich verbreitet und damit zur bestimmenden europäischen Geistesmacht.

EM: Und der Islam?

Barceló: Beim Islam war es ähnlich. Auch er verbreitete sich mit der Expansion der arabischen Staaten ab dem siebten und achten Jahrhundert nach Christus. Der Hinduismus dagegen blieb sehr stark indienbezogen und ging auch – im Gegensatz zum Christentum und zum Islam – nicht auf Missionierung aus. Und beim Buddhismus könnte man sich streiten, ob er im Vergleich mit den genannten überhaupt eine Religion ist, oder nicht viel mehr eine Philosophie,  eine Lebenshaltung, eine Art der Lebensführung, die nach innen gerichtet ist. Jedenfalls fehlt sowohl dem Hinduismus als noch mehr dem Buddhismus der Impetus der Expansion.

EM: Eurasien ist nicht nur der Kontinent der Religionen, indem er sie hervorgebracht hat, er erscheint auch durch religiöse Lehren und Kulturen zutiefst zerrissen. Gibt es überhaupt eine Chance, die Gräben jemals zu überwinden?

Barceló: Überwinden wäre vielleicht eine zu große Erwartung. Aber daß sie kleiner werden, erscheint doch durchaus realistisch.

Die Versuche, eine Religion in ganz Eurasien durchzusetzen, waren naiv

EM: Was hätte es bedeutet, wenn Dschingis Khans Steppenreiter oder später diejenigen Attilas nicht in Oberschlesien und vor Wien gestoppt worden wären, sondern stattdessen Eurasien zur Gänze beherrscht hätten. Wäre dann möglicherweise der Kontinent Eurasien religiös vereint worden?

Barceló: Nein, sicher nicht. Auch wenn Dschingis Khan ganz Europa erobert hätte, wäre er nur eine Episode der Geschichte geblieben. Der Mongolen-Khan hatte keine programmatische Idee oder Vision. Im Grunde genommen häufte er nur Territorien an, aber das schafft eben auf Dauer keine Stabilität. Insofern unterscheidet sich die Bindung des Reiches von Dschingis Khan grundlegend von der des Römischen Imperiums. Dieses hatte eben gemeinsame hegemoniale Prinzipien des Staates, der Verwaltung, des Rechts, die von Britannien bis Ägypten und von Spanien bis in den Kaukasus hinein galten.

EM: Es gab aber Strategen in Europa, deren Phantasie sich mit der Macht des Mongolenherrschers befaßte, nämlich innerhalb der katholischen Kirche. Was hätte es bedeutet, wenn im 13. Jahrhundert der Mongolenkaiser in Karakorum den Emissären des römischen Papstes nachgegeben hätte und katholisch geworden wäre – hätte die Seidenstraße dann zur kulturellen eurasischen Hauptschlagader werden können anstatt ein Schleichweg für Terror und Drogen?

Barceló: Das war im Grunde auch die Idee der Jesuiten, die auf Missionsreisen nach China, nach Japan gezogen sind und immer wieder versucht haben, die Oberschichten Asiens für das Christentum zu gewinnen und so dem Katholizismus eine universelle Machtgeltung zu verschaffen. Aber das war im Grunde genau so naiv, wie der Versuch Dschingis Khan auf die römische Kirche einzuschwören. Dabei wurde viel zu wenig berücksichtigt, welche kulturelle Vielfalt und Komplexität in den Ländern Asiens herrschte. Deshalb haben diese Gedankenspiele und diese Missionsreisen auch zu nichts geführt.

Es gab keine Geschichtsepoche, die ohne Religion auskam

EM: Wenn man die historischen Entwicklungen betrachtet, die Kämpfe, die Kriege bis auf den heutigen Tag, dann drängt sich die Frage auf, wofür eigentlich Religionen stehen - sind sie nicht eher ein Unglück, sind sie überhaupt noch zeitgemäß?

Barceló:  Ich glaube man kann diese Frage nur damit beantworten, daß Religionen zum menschlichen Leben gehören, von Anbeginn, und daraus einfach nicht wegzudenken sind. Es gibt keine Geschichtsepoche, weder in der Vergangenheit noch heute, die ohne Religion auskommt. Sie gehören dazu wie die Kultur, die Politik und die Wirtschaft, und sie regeln einen Großteil des Zusammenlebens der Menschen auch heute.

EM: Ein bekannter deutscher Unternehmensberater hat gesagt, Religion sei die genialste und lukrativste Geschäftsidee, die jemals von Menschen entwickelt worden sei. Ist dies das Geheimnis ihres Erfolgs – daß sie eine Geschäftsidee ist - was sagt der Historiker dazu?

Barceló: Das ist ein sehr, sehr vordergründiger Gedanke. Verfolgen wir ein Beispiel: Ein Mensch aus Nazareth, obskurer Herkunft, fängt an zu predigen und niemand hört ihm zu. Er wird dann vom Statthalter des römischen Reiches ans Kreuz geschlagen, weil er unverständliches Zeug murmelt. Er wird begraben und so fort. Eine Geschichte, die eigentlich banal ist. Aber was sollten die wirtschaftlichen, die ökonomischen Motive dahinter sein? Wenn wir damals gelebt und diese Geschichte miterlebt hätten, wir hätten sicher unser gesamtes Vermögen darauf gewettet, daß dies gerade keine Erfolgsgeschichte wird. Aber es ist ganz anders gekommen, es ist ein unvorstellbarer Erfolg geworden. Daß später damit auch Geschäfte gemacht wurden, ändert nichts daran, daß das Wesen von Religionen tiefe Schichten in uns Menschen berührt und genau daraus seinen Erfolg bezieht.

EM: Herr Professor, haben Sie herzlichen Dank für das Gespräch.

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