Freiheit im Grünen  - zu Besuch auf der DatschaRUSSLAND

Freiheit im Grünen - zu Besuch auf der Datscha

Ein Leben ohne die Datscha ist für viele Russen unvorstellbar. Seit Peter der Große die ersten Grundstücke vergab, hat sich an der Datscha einiges geändert, wegzudenken ist sie aus dem russischen Alltag nicht mehr. Die Datscha ist kein Haus, sie ist ein Lebenskonzept – und eine Auszeit von Stadt und Staat.

Von Inna Hartwich

Als Kind hatte es ihn befallen. Unmerklich, Wochenende für Wochenende. Das Virus ließ ihn nicht los. Dieses Datscha-Virus, das im Mai kam und im Oktober ging, das seine Bekannten, seine Verwandten erfasste, alle, die in der Stadt lebten und aufs Land hinausströmten, für ein paar Tage nur oder auch für mehrere Monate.
 
Es gefiel ihm, die Luft, das Wasser, die Natur, das Summen der Bienen und das Zwitschern der Vögel. Es gefiel ihm als Junge, als er mit seinen Freunden nach Regenwürmern für die Ausflüge zum Angeln buddelte; es gefiel ihm als Heranwachsender, als er mit der Angebeteten ein Plätzchen nur für sie zwei hatte; es gefällt ihm bis heute, dieses Datscha-Leben, das nicht nur ein Häuschen ist, irgendwo am Rande der Stadt. Die Datscha, das ist für den Moskauer Alexej Michajlow, mittlerweile 44 Jahre alt und Unternehmer, ein Lebenskonzept wie für Millionen Russen auch. Ein Freiraum, den sie in Liedern besingen und in Romanen beschreiben. Den sie verfluchen, bejammern – und so tiefgründig lieben.

„Kostja, hilfst du mir mit dem Kühlschrank?“ Der Junge schlüpft in seine blauen Gummi-Treter und eilt zum Auto. Endlich, ein neuer Kühlschrank! Ein kleiner Luxus in dem Holzhäuschen der Michajlows. Hier am Rande von Klin, einem Städtchen etwa 100 Kilometer nordöstlich von Moskau, haben sie sich ein umzäuntes Entspannungsreich geschaffen. 800 Quadratmeter, ein Stellplatz für die beiden Autos, eine Scheune, zwei Gewächshäuser, eine Gartenlaube und die selbstgebaute Banja, dieses russische Dampfbad aus Holz.

Eine Auszeit von Stadt und Staat

Das Haus ist schlicht, ein großer Raum unten, mit doppelstöckigem Bett, einem Sofa und Küchentisch, ein kleinerer Raum oben, durch eine halsbrecherische Holzleiter miteinander verbunden. Die Toilette ist draußen, die Dusche in der Banja, unterm Waschbecken fängt ein Eimer das schmutzige Wasser auf. Alexej hackt das Holz für den Ofen, seine Frau Irina kümmert sich um die Blumen und das Essen. Die Kinder müssen mitanpacken. Kostja, der Achtjährige, kehrt die Wege, die beiden älteren Söhne sind erst in ein paar Tagen wieder hier.
Vor drei Jahren haben die Michajlows das Grundstück gekauft, hier in der Kliner Datschensiedlung „Mitschurinez“. Es ist nicht ihr erstes, aber es ist näher an Moskau dran. Die Kinder spielen miteinander, die Erwachsenen tauschen Blumen aus oder beraten über die Infrastruktur. Auf grünen Holzbänken vor einem grünen Verwaltungshäuschen hocken sie dann, fast im Gras, und stimmen darüber ab, wie, wo und wann die Stromzähler angebracht werden müssen. Die „Datschniki“ üben sich in Demokratie. „Der Staat lässt uns hier in Ruhe, nicht mal die Polizei ist präsent“, sagt Alexej Michajlow. Die Datscha war schon immer eine Auszeit von Stadt und Staat.

Peter der Große war der Datschen-Pionier. 1703 hatte er St. Petersburg gegründet, die Fläche zu seinem Sommerpalais Peterhof 30 Kilometer weiter ließ  er in gleiche Grundstücke aufschneiden und an seine Günstlinge verteilen. Datscha hießen die Gaben, vom russischen Wort für „dawat“ (geben). Das Ziel: darauf eine Sommerresidenz zu bauen und sich zu erholen, von wirtschaftlichen Zwecken war die Datscha losgelöst. Man spielte Theater, man ließ sich gehen, man genoss das Leben. Vor allem im Sommer, denn beheizt waren die Häuser nicht. Das sind auch heute die wenigsten.

„In Moskau ist es langweilig. Hier kann ich die ganze Zeit draußen spielen, so viele Beeren essen wie ich will und in der Banja baden.“

„Das Wochenende gehört im Sommer der Datscha, komme, was wolle“, sagt Alexej Michajlow. Jeden Freitag sitzt er in seinem roten Mitsubishi und braucht für 100 Kilometer manchmal vier Stunden, jeden Sonntag geht es zurück nach Moskau. „Eigentlich könnte ich mich am Meer ausstrecken, mir die Sonne aufs Haupt scheinen lassen. Aber ich bleibe hier, gebückt, auf meiner Datscha.“ Der kleine Kostja ist ebenso infiziert wie seine Eltern. „In Moskau ist es langweilig. Hier kann ich die ganze Zeit draußen spielen, so viele Beeren essen wie ich will und in der Banja baden.“ Kostja strahlt und eilt zum Nachbarsjungen Maxim, sie wollen angeln gehen. Eine Lieblingsbeschäftigung der Freunde, wie bei so vielen Datschniki vor ihnen.

Anfang des 20. Jahrhunderts entsteht ein regelrechter Datscha-Boom: Unternehmer siedeln sich in den Sommermonaten auf dem Land an, die Intelligenzija geht hinaus, die Eisenbahn wird zur Hauptverkehrsader für die Freiheit im Grünen. Datscha-Zeitschriften entstehen, Romane, Theaterstücke, Gedichte. Auch während der Kriege gehen die Menschen aufs Land, wenn auch nicht, um sich zu erholen.

Die Datscha überlebt die Bolschewiki, sie integrieren sie in die neue Zeit und enteignen „nur die Luxusvariante“:  Häuser mit Wasserleitungen, Badewannen, Elektrizität, Heizung, Garage und Park. Daraus machen sie Kinderheime, Sanatorien oder Kulturhäuser und befehlen den Bau von weiteren Datschen am Rande der Großstädte. Allerdings reguliert der Staat, wer in den Besitz der Datscha kommt, schließlich  ist der Boden Staatseigentum. Wie schon Peter der Große geben die Bolschewiki ihren Bürgern das Land zur Nutzung, auf dass sie darauf Häuser auf eigene Kosten bauen. Die Datscha bekommt Zunftcharakter: Es entstehen Datschensiedlungen für Ärzte, für Textilarbeiter, für Zeitungsredakteure. Manchen von ihnen retten sie im Zweiten Weltkrieg das Leben.

Die Sowjets greifen die Idee europäischer Kleingärten auf

1955 dann der Erlass „Zur weiteren Entwicklung des Gartenbaus und der Winzerei der Arbeiter und Angestellten“: Die Sowjets greifen die Idee europäischer Kleingärten 150 Jahre zuvor auf und machen den Anbau von Obst und Gemüse auf den stets 600 Quadratmetern Fläche zur Pflicht. Nur die Kader lassen es sich auf ihren luxuriösen Landsitzen gut gehen. Das Proletariat muss sechs Apfel- und jeweils zwei Pflaumen- und Kirschbäume pflanzen und ein einstöckiges Haus von 25 Quadratmetern Fläche bauen. Als „Gymnastik für Blutgefäße“ soll die Datscha, so das Sowjetmotto, fit halten. Irina Michajlowa spricht auch heute noch lächelnd über die Sowjetdevise von „Nähe zur Erde“ und der „Muskelfreude“.

Die Michajlows haben bewusst ein einfaches Haus, wollen keine „steinernen Mutanten“, wie sie in den Reichenvierteln Russlands entstehen – mit videoüberwachten Phantasieschlösschen im pseudo-italienischen Stil. Milliarden Rubel zahlen die Neureichen dafür und schotten sich ab. „Es soll bescheiden zugehen, aber fröhlich.“ Alexej Michajlow lacht und heizt die Banja ein. Kostja und Maxim stehen mit ihren Handtüchern schon bereit, draußen fängt es an zu regnen. „Mama, fahren wir am Dienstag schon zurück nach Moskau?“, fragt Kostja bange. „Aber nein doch, erst am Dienstag in einer Woche“, sagt Irina Michajlowa und gießt jedem noch Tee ein. Der Junge ist zufrieden. „Maxim, hörst du, ich kann noch hier bleiben, hier auf der Datscha!“ 

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Die Autorin ist Korrespondentin von n-ost. Das Netzwerk besteht aus über 50 Journalisten in ganz Osteuropa und berichtet regelmäßig für deutschsprachige Medien aus erster Hand zu allen Themenbereichen. Ziel von n-ost ist es, die Wahrnehmung der Länder Mittel- und Osteuropas in der deutschsprachigen Öffentlichkeit zu verbessern. Weitere Informationen unter www.n-ost.de.

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